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Das riesenhafte Experiment

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„Es ist noch zu früh, zu beurteilen, was das wahrscheinliche Ergebnis des riesenhaften Verstaatlichungs-Experimentes sein wird“, urteilt in der bekannten linksstehenden englischen Wochenschrift „New Statesman and Nation“ (2. Februar) Shiela Grant Duff abschließend über das Sozialisierungsunter-nehmen, mit dem gegenwärtig die Tschechoslowakei die gesamte Industrie, alle Unternehmungen, die mehr als zwanzig Angestellte , und Arbeiter beschäftigen, in staatliche Hände nimmt. „Die Tschechen sind sich bewußt“, fährt der angelsächsische Beurteiler fort, „daß sie kein Beispiel für ihr Schema besitzen und auch sehr wenig Erfahrungen, auf die sie sich verlassen können. Sie sind sich auch bewußt, daß es nur einen einzigen Bürgen für den Erfolg gibt — erhöhte Erzeugung und daß diese Erhöhung sehr rasch und in einem sehr großen Umfange erfolgen muß. wenn die Tschechoslowakei erreichen soll, was ihrem Vorkriegsanteil am Welthandel und ihrem Vorkriegslebensstandard gleichen soll. Zu den Kriegsschäden, die sie erlitten haben, und zu den schweren Einwirkungen, an denen sie seit dem Zusammenbruch Deutschlands tragen müssen, h;iben die Tschechen bewußt eine neue Bürde durch die Austreibung von nahezu einer Million hochqualifizierter deutscher Arbeiter aus ihren bis aufs Höchste industrieali-sierten Distrikten auf sich genommen, aus Bezirken, denen der Hauptanteil an der Ausfuhr zukam; überdies hat die Slowakei den Verlust der ungarischen Arbeiter zu tragen. Und noch mehr: die Tschechoslowakei muß, gleich vielen andern Ländern, mit ernsten Erscheinungen von Nachkriegsermüdung und Demoralisation rechnen und gerade unter den Schichten, die den produktivsten Sektor der Gemeinschaft bilden sollten.“

Zu diesen bedenkenschweren Feststellungen kommt der englische Volkswirt auf Grund einer Untersuchung, welche die Größe der Umwälzung aufzeigt, die sich gegenwärtig in der Industrie der Tschechoslowakei vollziehen. S. G. Duff erinnert daran, daß das Nationalisierunggesetz nicht nur die deutschen Industriellen und ihre sogenannten Collaboratoren (Tschechen, die als Erzeuger den ersteren mithalfen) — beide ohne jede Entschädigung — enteignet, sondern daß das Gesetz auch die bodenständigen Quellen der eigenen Macht trifft, jene mächtigen finanziellen, industriellen und landwirtschaftlichen Konzerne, die in den Händen einiger, und wie es sich jetzt herausstellt, „unzuverlässiger“ tschechischer Großunternehmer waren. Durch die Nationalisierungsdekrete werden alle diese Industrien jetzt endgültig und vollständig dem Staat untergeordnet, Die Enteignung der Deutschen müßte allein schon einen mächtigen Impetus der Nationalisierung bedeutet haben. In zwei Dritteln der tschechoslowakischen Industrie wurde jetzt das Privateigentum beseitigt; praktisch war die ganze Porzellanindustrie, 90 Prozent der Papierindustrie und 75 Prozent der chemischen “Werke in deutschen Händen. Dazu kommt, daß sich die dringende Notwendigkeit einstellte, die ganze Struktur der tschechoslowakischen Volkswirtschaft umzustellen. Die Flugzeugindustrie zum Beispiel wird in Zukunft nur 5 Prozent all der Arbeiter aus der Kriegszeit beschäftigen können. Das Transportsystem ist praktisch schwer betroffen. Von 90.000 Waggons sind zum Beispiel nur 1 3.0 0 0 übriggeblieben.

Daß man trotz dieser Lage an die Nationalisierung ging, mißt der englische Beobachter politischen Motiven zu und er zitiert als Zeugen einen führenden tschechischen bürgerlichen Journalisten, Ferdinand Beroutka, der die Verstaatlichungsaktion als politisch „unausweichlich“ bezeichnete, mit dem Beifügen „Laßt uns hoffen, daß sie sich wirtschaftlich lohnen wird“. Mitte Dezember waren bereits zehntausend Konzerne „nationalisiert“ und ungefähr eine Million Arbeiter waren jetzt in diesen verstaatlichten Unternehmungen tätig. Alle Bergwerke, alle Kraftanlagen der Schwerindustrie, die chemische Produktion, die größeren Fabriken in den Schlüsselindustrien der Textil-, Porzellan-, Glas-, Zelloluse-, Holz-, Papier-, Leder-branche waren bereits verstaatlicht. Ebenso Zuckerfabriken, Destillerien und Brauereien, Mühlen und Schokoladefabriken. Sie alle gehören nun dem Staate, soweit sie nicht irgendwelchen Kooperativen gehören. Auch alle Gesellschaften der Geldwirtschaft.

„Diese Staatsunternehmungen“, sagt Duff, „sollen nach kaufmännischen Gesichtspunkten geführt werden, der Staat beansprucht einen Anteil an ihrem Gewinn, aber er lehnt es ab, für ihre bisherigen Verbindlichkeiten zu haften. Die bisherigen Unternehmer, die enteignet wurden, dürfen, soweit sie nicht durch die Dekrete davon ausgeschlossen sind, nunmehr als Direktoren verbleiben unter Zulassung seitens ■ des Staates und der Arbeiter, die auch dabei mitzusprechen haben. Das staatliche Unternehmen steht unter Führung des Direktors und eines Direktionskomitees, der „W erksverwaltun g“. Die Mitglieder der letzteren werden zu einem Teil durch die Angestellten und Arbeiter, und zum anderen durch das Zentralamt für Industrie nominiert. Über allem steht der Volkswirtschaftliche Rat, der aus sechs Regierungsmitgliedern und Vertretern der Gewerkschaften und genossenschaftlichen Bewegungen besteht. Der Minister für Industrie ist der Verantwortliche für die Durchführung des Verstaatlichungsplanes in den einzelnen Fabriken. Er hat sowohl Ernennungen wie auch die Wahlen der Werksverwaltungsmitglieder zu genehmigen und kann seine Genehmigung jederzeit zurückziehen. Der Direktor einer Industrie wird ernannt oder entlassen im. Einvernehmen zwischen dem Industrieminister und dem Zentralamt für Industrie, nachdem zuvor der Zentralrat der Gewerkschaften und die industriellen Organisationen gehört worden sind. Die Betriebsräte in den einzelnen Fabriken sind berechtigt, Tätigkeit und Leistung der Fabrik im Interesse der Gemeinschaft zu kontrollieren, mitzuwirken an der Feststellung der Arbeitsbedingungen und Löhne und an der Anstellung neuer Arbeiter. Sie haben auch den Anspruch auf Mitwirkung an Planung, und Kontrolle der Produktion. Unvermeidliche Streitigkeiten zwischen den Werksverwal-tungen und den Betriebsräten gelangen vor Schiedsgerichte, die in den Bezirksämtern des Arbeitsministeriums errichtet werden. „Wenn die Tschechen“ — urteilt zusammenfassend der englische Autour — „tatsächlich alle ihre Kraft an dieses Experiment sozialer Demokratie setzen, so kann es Erfolg haben, aber sie haben ein einigermaßen härte res Tagewerk für ihre Republik zu vollbringen, als sie es für dieNazi taten, oder dasExperiment wird verunglücken. Und es wird nicht gerade nur das Verunglücken eines Experimentes sein. Wie Lausmann neulich in einer Rede sagte: „Die Zukunft der tschechoslowakischen Industrie wird die Zukunft der tschechoslowakischen Republik sein.“

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