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Totalitäre Gemeinde im totalitären Staat

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Ob man heute in Prag mit der Straßenbahn fährt oder sich, rasieren läßt, ob man eine Photographie für die vielen Legitimationen benötigt oder seine Wohnung malen laßt — immer ist es die Gemeinde, mit der man es zu tun hat. Gemeindebedienstete sind es, die die Fahrkarte lochen oder die Suppe im Gasthof servieren, die die Haare schneiden oder den Film entwickeln. 36.000 Menschen beschäftigen allein die Unternehmen der Stadt Prag, im ganzen Land sind es zehnmal so viel. Außer den Unternehmungen, die auch anderwärts von der Stadtverwaltung betrieben werden, hat man in der Tschechoslowakei eine ganze Reihe weiterer Wirtschaftszweige zwar nicht „verstaatlicht“, aber „kommunalisiert“, das heißt den Gemeinden, Bezirken und Kreisen übergeben: Tischlereien, Hotels, Ziegeleien, Sodawassererzeugungen, Mühlen, Teppichwebereien. Es handelt sich also vorwiegend um Kleinbetriebe des Handels und Handwerks, die sich zwar einer zentralen Lenkung und Planung entziehen, aber trotzdem nicht länger im Privateigentum verbleiben sollten. Während man für die Wirtschaftszweige von gesamtstaatlicher Bedeutung, für Bergwerke und Industrien, die Rechtsform der „Nationalbetriebe“ wählte, hat man Handel und Handwerk, also die Betriebe von nur lokaler Bedeutung, in „ Kommunal betriebe“ umgewandelt.

In Prag sind etwa 40 Prozent aller hier Beschäftigten ehemalige selbständige Unternehmer, die es vorzogen, den gedruckt aufliegenden Rahmenvertrag zu unterfertigen, mit dem sie ihren Laden oder ihre Werkstatt samt Inventar der Gemeinde übergeben und in ein Beschäftigungsverhältnis eintreten.

Aber auch in den Kleinstädten und selbst in den Dörfern war es nicht anders: Autoreparaturwerkstätten, Baufirmen, Sägewerke, Zementwarenerzeugungen wurden zusammengelegt und zu Kommunalbetrieben der Gemeinden und Bezirke verwandelt, vielfach faßten sämtliche Gewerbetreibenden einer Gemeinde gleichzeitig den Beschluß, auf die weitere selbständige Ausübung ihres Handwerks zu verzichten und sich einem Kommunalbetrieb anzuschließen. Mit gutem Beispiel ging das „Grenzgebiet“ voran, die einstigen sudetendeutschen Gebiete, deren konfisziertes Vermögen vom Ansiedlungsamt oder vom Fonds für nationale Erneuerung nach der Enthebung der „Nationalen Verwalter“ vielfach nicht in Privateigentum übergeführt, sondern den Gemeinden und Bezirken überlassen wurde. Mit Sandgruben, Gärtnereien, Beerdigungsanstalten fing es an, bald folgten auch Konditoreien, Reisebüros, Bierbrauereien, und heute gibt es keinen Handels- oder Gewerbezweig mehr, der nicht von Gemeinden, Bezirken und Kreisen betrieben würde.

Es ist klar, daß den Gemeinden und den übrigen Instanzen der „Volksverwaltung“ damit ein großer wirtschaftlicher Einfluß zugefallen ist, der die Einbuße ausgleicht, den sie durch die Beseitigung der Gebietsselbstverwaltung erlitten haben. Sie sind damit freilich vielfach einer Kritik ausgesetzt, wie sie bisher an den kapitalistischen Unternehmern geübt wurde, denn es hat sich inzwischen gezeigt, daß die Änderung der Rechtsform allein keineswegs Wunder bewirkt, ja, daß im Gegenteil vieles weit schlechter geworden ist, als es vorher war. Innenminister Nosek mußte unlängst feststellen, daß die Produktivität der Arbeit in den Kommunalbetrieben unglaubliche Schwankungen aufweist und die gleichen Betriebszweige in verschiedenen Gemeinden Unterschiede von 200 Prozent aufweisen. Ähnlich schwanken die Preise für vergleichbare Leistungen: so kosten zum Beispiel sechs Paßbilder in den Photowerkstätten der Hauptstadt Prag 45 Kč, in anderen kommunalen Photobetrieben mehr als das Vierfache. Die selbständigen Gewerbetreibenden, die sich früher auf alle erdenkliche Weise bemühten, ihre Kunden zufriedenzustellen, „amtieren jetzt ähnlich wie jene unter den Beamten hinterm Schalter, die das Publikum rücksichtslos warten lassen. Von einer Verbilligung oder Verbesserung der Leistungen ist bisher nichts bekannt geworden, lediglich die Tapeziererbetriebe in Prag konnten ihre Preise gegenüber den früheren privaten Unternehmern um 3 bis 5 Prozent senken, die Zimmermaler um 5 Prozent. Ein heikler Punkt ist die Heranbildung des Nachwuchses Į in allen Kommunalbetrieben der Tschechoslowakei machen die Lehrlinge nur 2’/s Prozent aller Beschäftigten aus. Auch die Zahl der hier beschäftigten Frauen wird von den maßgebenden Stellen als durchaus ungenügend empfunden; so werden in den kommunalen Gaststätten nur 50 Prozent Frauen beschäftigt statt 100 Prozent, wie es dem Plan entspräche.

Nur wenige lobende und nachahmenswerte Beispiele aus der Tätigkeit der Kommunalbetriebe weiden angeführt, etwa die Reparaturbetriebe der Hauptstadt Prag, die ihre gelernten Tischler als Schlosser, Glaser und Anstreicher ausbilden, um so universelle Instandsetzungsfachleute einsetzen zu können, oder der Friseurbetrieb der Stadt Böh- misch-Leipa, der das Haarschneiden der Jugend in der Schule durchführt, um den berufstätigen Müttern Zeit zu sparen.

Letzter Maßstab, oberstes Kriterium für Bewährung oder Versagen ist die Erfüllung des Plan-Solls. Das Streben, es womöglich noch zu übertreffen, nimmt mitunter groteske Formen an: wenn etwa die Prager Photobetriebe bereits im September die lOOprozentige Erfüllung ihres Jahres-Solls meldeten oder wenn die 142 Beschäftigten der Sektion Friseure der Vereinigten Kommunalbetriebe des Bezirkes Reichenberg eben die 132,spro- zentige Erfüllung ihres Monatsplanes verkünden!

Wie die Gemeinden in der Volksdemokratie heute nur unterste Instanz der einheitlichen Staatsverwaltung sind, so sind auch ihre Kommunalbetriebe Staatseigentum, das ihnen lediglich zur Verwaltung übertragen ist. Hier tritt der Staat dem Bürger nicht nur als Richter und Staatsanwalt, als Gendarm und Standesbeamter gegenüber, auch die Milchfrau und der Schuster, das Stubenmädchen im Hotel oder die Verkäuferin im Textilwarengeschäft sind Funktionäre des Staates in seinen verschiedenen Erscheinungsformen, genau so wie der Arzt, der Fabriksleiter oder der Totengräber. \ Der Staat ist alles.

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