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.Revolution der Wirtschaft in der Tschechoslowakei

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97 Prozent der Industrie, 93 Prozent der Bauwirtschaft, fast 100 Prozent der Verkehrsbetriebe und sämtliche Geldanstalten und Versicherungen befinden sich in der Tschechoslowakei heute in der Hand des Staates. Der Leiter des staatlichen Planungsamtes, Minister Dolansky, der kürzlich anläßlich des dritten Jahrestages der Einführung der Planwirtschaft dem Prager Parlament diese Zahlen mitteilte, machte bei dieser Gelegenheit auch über die Rolle des Handels wichtige Angaben:

Während die Industrie bereits auf Grund der Verstaatlichungsdekrete Beneschs zu 80 Prozent auf den Staat übergeleitet und fast ein Drittel der gesamten Bodenfläche des Staatsgebietes konfisziert worden war, ist die Nationalisierung des Handels ausschließlich das Ergebnis der Zeit seit dem Februar 1948.

Hundertprozentig verstaatlicht ist der Großhandel. Die bisher von rund zehntausend Engrosgeschäften wahrgenommenen Aufgaben werden nunmehr von 32 staatlichen Handelsbetrieben besorgt; sie beschäftigen 22.000 Arbeitskräfte, während früher 54.500 Bedienstete benötigt wurden. A n die Stelle von tausend Importeuren und Exporteuren traten 29 staatliche Monopolgesellschaften, die allerdings nicht in der Rechtsform von Staatsbetrieben errichtet wurden, sondern als Aktiengesellschaften, um auch im Ausland Filialen errichten zu können.

Voll Stolz wird hervorgehoben, daß die Monopolgesellschaften der Tschechoslowakei zu den größten Handelsfirmen der Welt gehören und auch die Handelsbetriebe für den Binnenhandel wahre Kolosse im Vergleich zu den Unternehmungen der Vorkriegszeit darstellen: während das größte Einheitspreisgeschäft, ASO, 1938 in 13 Betrieben tausend Arbeitskräfte beschäftigte, zählt der Staatsbetrieb „Kaufhäuser“ heute 65 Zweigstellen und beschäftigt 4000 Bedienstete. Während die Regien der großen Kaufhäuser vor dem Kriege 20 Prozent des Umsatzes betrugen, erreichen sie heute nach den Mitteilungen des Planungsministers nicht 6 Prozent, denn man kennt in der Tschechoslowakei keine Inserate, keine Geschäftsreisenden und keine Agenten mehr, Maklergebühren und Vertreterprovisionen fallen weg, so daß die Regien für Importgeschäfte von 3 Prozent auf 0,5 Prozent gesenkt werden konnten, für Exportgeschäfte von 8 auf 1,75 Prozent.

Aber auch der Detailhandel ist heute bereits weitgehend verstaatlicht.

Allein in Brünn wurden zu Beginn dieses Jahres 650 Textilwarengeschäfte geschlossen und an ihrer Stelle 38 Verkaufsstellen des staatlichen Textilverteilungsbetriebes (Tep) errichtet. Einige aufschlußreiche Zahlen hat kürzlich Innenhandelsminister K r a j č 1 r mitgeteilt: Der sozialisierte Sektor und der noch in Privatbesitz befindliche Sektor des Einzelhandels halten sich, was die Umsatzhöhe anbelangt, so ziemlich die Waage. D i e Zahl der Beschäftigten beträgt aber im sozialisierten Sektor nur 8 0.0 0 0, gegenüber 1 1 0.0 0 0 im privaten. Daraus zog der Minister den Schluß, daß sich hier noch ein großes Reservoir „nicht hinreichend ausgenützter Arbeitskräfte" vorfindet, ein „Überbleibsel aus der kapitalistischen Periode mit ihrem aufgeblähten Handelsapparat", ihrem viel zu dichten Netz von Verkaufsstellen in den Städten und einem Überfluß an Bediensteten, und will innerhalb eines Jahres 30.000 Arbeitskräfte auf andere Arbeitsstellen „umsetzen“. Man sieht dabei aber geflissentlich über die Tatsache hinweg, daß ein volles Viertel der im privaten Sektor Tätigen von den Eigentümern und ihren Familienmitgliedern gestellt wird.

Es gibt auf dem Gebiet der „Distribution“ — dieser Ausdruck ersetzt heute allgemein das Wort Handel — einen freien und einen bewirtschafteten Markt, einen pri-

vaten und einen sozialisierten Sektor, man unterscheidet den sozialisierten Sektor weiterhin in Verbrauchergenossenschaften und staatliche Distributionsunternehmungen. Der genossenschaftliche Zweig zählt 1,5 Millionen Mitglieder und 10.000 Verkaufsstellen, 500 Gemeinden werden ausschließlich von ihm versorgt.

Die staatlichen Distributionsbetriebe weisen fast durchwegs einen dreistufigen Aufbau auf: die Zentrale, die Betriebsdirektion, besorgt den Einkauf und ist für die Preis- und Verkaufspolitik, Organisation, Revision, Steuer- und Rechtsfragen und Versicherungen zuständig, alles übrige ist Aufgabe der Kreis- oder Gebietsverwaltungen, denen schließlich die „Verkaufseinheiten" (Verkaufsstellen) unterstehen. Ein Plan für die Errichtung eines optimalen Verteilungsnetzes befindet sich in Ausarbeitung.

Zwischen „Distribution“ und Produktion ist ein scharfer Trennungsstrich gezogen. Mit den Produzenten werden von den Distributionsbetrieben Lieferverträge abgeschlossen, die freilich vielfach rein formalen Charakter haben, da sich zwei Monopolbetriebe gegenüberstehen, von denen eben der eine abnehmen muß, was der andere erzeugt. Immerhin ist man von dem ursprünglichen Zuteilungssystem wieder auf Bestellungen übergegangen.

Einer der größten staatlichen Großhandelsbetriebe ist das Unternehmen „Textilia", das mit dem staatlichen Einzelhandelsbetrieb für Textilien „Tep" zu einem Einheitsbetrieb verschmolzen wurde und heute 2300 Ver-

kaufsstellen zählt, davon 166 „blaue" für den Verkauf bezugscheinfreier Spinnstoffe, während die anderen, die „roten“, die bewirtschafteten Textilien auf Punkte abgeben. Anders ist der Lebensmittelhandel organisiert: hier beliefern der staatliche Großhandelsbetrieb und seine Filialen ebenso den staatlichen Detailhandelsbetrieb „Pra- men“ (Quelle) wie die Genossenschaften und die privaten Lebensmittelgeschäfte, wobei jedes Lebensmittelgeschäft nur von. einer einzigen Stelle beliefert werden darf; der Bedarf wird zweimal monatlich auf vorgeschriebenen Formularen angefordert, und zweimal im Monat erfolgt die Belieferung.

Die völlige Trennung der Handelsbetriebe von den Erzeugungsstätten hat aber schwerwiegende Nachteile im Gefolge. Erzeuger und Verbraucher sind dadurch noch weiter voneinander entfernt, komplizierte Marktforschungen sollen den früher bestandenen lebendigen Kontakt ersetzen. Die Weiterleitung und Erledigung der sich häufenden Reklamationen sind einer der wundesten Punkte des heutigen Verteilungssystems.

Dabei ist man ängstlich bemüht, alles zu vermeiden, was einer Bürokratisierung des Handels ähnlich sehen könnte: in allen Kaufhäusern liegen Beschwerde- und Wunschbücher auf, für die Landbevölkerung werdeii ambulante Textilwarenhandlungen geschaffen, Brot und Gebäck müssen bereits ab 6 Uhr früh verkauft werden, Konditorwaren während des ganzen Sonntags. Aber nicht immer gelingt dies: das Kalkulieren der Preise auf Grund der Bestimmungen der Obersten Preisbehörde ist eine recht umständliche Angelegenheit, von offizieller Seite wird zugegeben, daß zur Errechnung selbst einfacher Fälle durchschnittlich 264 Sekunder!, also 4,5 Minuten, erforderlich sind!

In pausenloser Hast arbeitet Prag an der Umgestaltung der Wirtschaft. An die Seite der planmäßigen Produktion ist die planmäßige Distribution getreten. Nach all den Angriffen, die bisher gegen den Handel gerichtet worden waren, ist man jetzt bemüht, sein Ansehen wieder zu heben, zu beweisen, daß auch die Arbeiter hinter dem Ladentisch — wie Stalin sich ausgedrückt hat — ein revolutionäres, bolschewistisches Werk vollbringen können.

Das große Experiment ist im Anlauf. Seine schwachen Stellen zeigen sich bereits. Der materielle Ertrag wird gehoben auf Kosten des Menschen. Er versinkt im Apparat. Er wird eine Nummer.

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