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Der rote Zeiger

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In den Wollwebereien von Lodz wurden anfangs September dieses Jahres Uhren angebracht, deren Zifferblätter mit Produk-tionszahlen beschrieben sind. Morgens wird~ ein grüner Zeiger auf das Soll der Tagesleistung, die „Norm“, eingestellt, die ein entsprechend der Produktion stündlich vorgerückter roter Zeiger am Abend erreicht oder überschritten haben muß. „Wenn sich der rote Zeiger verspätet, mobilisieren die Arbeiter ihre Kräfte wie bei einem drohenden Alarm“, schreibt der sozialistische „Robotnik“ in Warschau, „und sie tun alles, damit der rote Zeiger wieder voreile und den grünen erreiche. Die Wollindustrie lag noch im August 25 Prozent hinter dem Plan, aber schon im September konnte sie einen kleinen Überschuß erzielen.“ Täglich gehen die Meldungen aus den Betrieben an die Zentraldirektion, wo man „wie auf einem Kampfplatz“ die Erzeugungslage prüft und Anfeuerungen in Form von Lob, Rüge oder Strafe verschreibt.

Die Lodzer Uhren sind keine originelle, wohl aber eine für den östlichen Staatssozialismus charakteristische Neuerung. In anderen Oststaaten bedient man sich des „Graphikons“ mit einer grünen Sollkurve und einer ihr zustrebenden roten Leistungslinie. Wie die Uhr, ist auch diese Schautafel ein Werkzeug der in den unpersönlichen Massenapparat eingefügten Einzelbetriebe zur Anspannung der Arbeitskraft oder, wie gesagt wird: „ein Appell an den sportlichen Elan“. Er hat sich als notwendig erwiesen, als die Parolen der Revolution verblaßten und der erste Antrieb nachließ. Charakteristisch ist die Forcierung der Stück- oder Akkordlohnarbeit. In der Tschechoslowakei will man sie bis Jahresende in allen Schlüsselindustrien durchgedrückt haben, in Polen und in Jugoslawien folgt man diesem Beispiel. Die kommunistischen Blätter verweisen mir^ allem Nachdruck auf die Notwendigkeit der Stücklohnzahlung: „Die Arbeitsdisziplin ist schwach, weil die Arbeiter nidit im Akkord, sondern im Taglohn arbeiten.“ Alle das Arbeitstempo beschleunigenden, Einrichtungen erreichen ihre .Krönung in den innerhalb oder zwischen Fabriken der gleichen Branche oder gar zwischen Branchen verschiedener Länder ausgetragenen beruflichen Wettbewerben, für die der Staat ein eigenes Amt unterhält. In der Tschechoslowakei ist es die „Zentralkommission zur Organisierung der Nationalwettbewerbe“ als Organ der Gewerkschaftszentrale, der Fachverbände und der zuständigen Ministerien. Sie will in Zukunft alle wirtschaftliche Tätigkeit nach dem Prinzip des Wettkampfes leiten. Nadi den Produktionsziffern des Jahres 1937 wird die Güte und Menge der Waren, die Schnelligkeit und Bereitschaft der Erzeugung, die Arbeitsorganisation und Rationalisierung beurteilt. Als Preise erhalten die Sieger eine Wanderstandarte „Den Helden der Arbeit“, Medaillen, Diplome, Gebrauchsgegenstände, Ernennung zum Stoßtrupparbeiter, Novator, Rationalisator und Instruktor.

Diese und ähnliche Methoden, aus dem arbeitenden Menschen die höchste Leistung herauszuholen, waren bis 1945 von den Gewerkschaften der alten Schule als Waffe des Kapitalismus im Kampf um den Profit strenge verpönt. Der Widerstand der Arbeiter gegen diese äußerste Auswertung der physischen Reserven ist aber auch heute nicht ausgeblieben. Das Mißtrauen und die Kritik der Belegschaften haben in Polen die kommunistische Propaganda auf den Plan gerufen, die der sich ausbreitenden Stimmung entgegenzuwirken hat. Auf einer Siegerehrung im polnischen Kohlenwettbewerb mußte der kommunistische Vizepremier Gomulka den Akkordlohn verteidigen, zumal er jetzt „trotz gewisser Mißverständnisse“ auch auf den Textil-sektor übertragen wird:

„Unsere Feinde flüstern den Arbeitern zu, die Volksregierung unterhalte in den Betrieben eine gleiche Politik wie die Kapitalisten. Doch ist darin ein Unterschied prinzipieller Art. Das kapitalistische Produkt aus der Arbeit der werktätigen Klasse diente als Mittel zur Vermehrung des Privatkapitalismus, der auf den größten Nutzen ausging, die Löhne aber auf dem gleichen Niveau beließ. Unser Arbeitsprodukt hingegen dient nicht der Bereicherung des einzelnen, sondern der Vermehrung des nationalen Wohlstandes. Wenn die heutigen Lebensbedingungen sich von jenen der Vorkriegszeit noch unterscheiden (!), dann, wegen der Verhältnisse, die die Volksregierung beim Antritt ihrer Tätigkeit vorfand.“

Das Thema kehrt in einer Rede wieder, die der Vorsitzende des jugoslawischen Wirtschaftsrates, Minister Boris K i d r i 6, in Laibach am 10. Juli dieses Jahres hielt: „Entgegen den Gedanken und Lügen vom wirtschaftskapitalistischen Charakter unserer Staatsbetriebe muß ich feststellen, daß der Staatliche Sektor unserer Wirtschaft ein sozialistisches Gebilde ist, weshalb seine Verbesserung und die Vermehrung unserer Produktion zur Realisierung des Sozialismus in unserem Lande dienen. Unzulänglichkeiten“, so fügte Kidri6 noch hinzu, „kämen deshalb vor, weil die Sozialisierung eben noch nicht abgeschlossen sei.“

Viele Arbeiter sehen die Dinge jedoch nicht von dieser hohen Warte, sondern aus der Perspektive ihrer täglichen Erfahrung. Während die amtlichen Agenturen noch die über der Norm liegenden Ziffern der Erzeugung kommentieren, öffnen sich in einzelnen Sparten schon bedenkliche Lücken. Für die nur 60prozentige Planleistung in dem nordbosnischen Kohlengebiet Banovici macht die kommunistische „Borba“ neben technischen Gründen auch die sinkende Arbeitsmoral verantwortlich. Aber auch dort, wo die Normen erreicht wurden, wurde dies oft mit einer Verschlechterung der Qualität erkauft. Der Kalorienwert der böhmischen Kohle ist wegen tauber Beimischungen um ein Drittel niedriger als 1938. Die Warschauer „Rzeczpospolita“ fordert Lebensmittelprämien für die schlesischen Grubenarbeiter als Stimmungsanreiz und Maßnahmen gegen die beängstigende Wanderlust der Lodzer Textil- und der Holzarbeiter in den neuen Westprovinzen. Die Auslieferung von Güterwagen der jugoslawischen Eisenbahnwerkstätten entsprach zahlenmäßig den Vorschriften, bei der Revision jedoch mußte ein Teil der Eisenbahnwagen wegen fehlender oder schlechter Bestandteile wieder in die Werkstätten zurück. In der kroatischen Textilindustrie müssen jetzt die Meister für schlechte Qualität eine finanzielle Haftung leisten.

Als eine der schwerstwiegenden Tatsachen zeigt sich allenthalben der Mangel an Initiative und Veranwortungs-wille in den bürokratischen Leitungen der Nationalbetriebe.

Von dem kroatischen Industrieminister Sidiö stammt (das Wort gegenüber einer Deputation von Gewerkschaften:

„Nach euren Aussagen müßten wir 90 Prozent der Direktoren entlassen, diese erklären wiederum, 90 Prozent der Gewerkschaftsfunktionäre müßten weg. Dabei kommen fast alle Direktoren aus den Reihen der Arbeiterschaft, doch irren sie, wenn sie glauben, daß sie ihre Posten behalten können, ohne zu lernen und vollkommener zu werden. Bereiten sie uns Schwierigkeiten, dann werden wir solche Menschen an ihre Posten stellen, die einsehen, daß es ohne Studium und Vervollkommnung keinen Anspruch auf eine Direktorposition gibt. Das gleiche gilt auch für die Gewerkschaftsfunktionäre.“ Hier drohen der verstaatlichten Wirtschaft die ersten inneren Gefahren. Das Problem aber kompliziert sich durch das Auftreten eines neuen Faktors: die Hast der begonnenen Industrialisierung großen Maßstabs, eine Abschöpfung aller verfügbaren “Kräfte für diesen Aufbau. Es sind dies Ungelernte, meist aus den Dörfern herangeführte Menschen, in Polen etwa 8 0 0.0 0 0, wobei die gefährliche Saugwirkung der Betriebe noch lange nicht erschöpft ist; in der Tschechoslowakei müssen rund 650 000 sudetendeutsche Facharbeiter ersetzt werden, in Jugoslawien hat man bisher eine halbe Million in die Industrie übergeführt, weitere 170.000 sind schon wieder angefordert; von Bulgarien hegen keine Zahlen vor, doch spielt sich dort der gleidie Vorgang ab. Der Zwang, auch die muselmanisdien Frauen in den Arbeitsprozeß einzugliedern, setzte die Besteigung des in der islamitischen Bevölkerung des Balkans zum Unterscliied, von Anatolien noch erhalten geblipben*en Schleiers, dieses „Symbols einer jahrhundertealten Knechtschaft“, voraus. Die gewaltige Binnenwanderung vom Lande in die Stadt weist alleMerkmaleeinerMassen-proletarisierung auf. Die Betroffenen sind völlig betriebsfremd, müssen oft erst Lesen und Schreiben lernen, werden in Schnellkursen auf die wenigen Handgriffe einer Maschinenbetreuung eingeschult, wohnen meist in Lagern, leben von einem Lohn, der wenig Ersparnisse gestattet, können an keine Traditionen gebunden werden, wie etwa in alten Industriezentren mit einer seßhaften Bevölkerung. Selbst eine umsichtige kulturelle Fürsorge bleibt angesichts der elementaren Wucht dieser Wanderung ohne sichtliche Breitenwirkung. Die Massierung dieser entwurzelten Menschen, die ein Dorfleben, in dem sie arm, aber frei und geborgen waren, durch das dumpfe Sklavenleben einer unverstandenen Fremde vertauschen mußten, um die industriellen Mammutbetriebe, kann bald eines Tages böse Überraschung hervorrufen.

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