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Die Tschechen in Wien

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Vor dem Zusammenbruch der Donaumonarchie war die Reichshauptstadt Wien auch zugleich die größte tschechische Stadt. Von ihren zwei Millionen Einwohnern bekannten sich bei der Volkszählung 600.000 zur tschechischen Muttersprache: eine Zahl, die damals von keiner Stadt der Länder der Böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und Schlesien) erreicht wurde. Die Anziehungskraft Wiens hatte sich gerade auf die Tschechen sehr stark ausgewirkt, ein Umstand, der noch heute, achtunddreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des alten Oesterreichs, in den zahllosen tschechischen Namen in der Wiener Bevölkerung zum Ausdruck kommt. Nach 1918 setzte teils eine Rückwanderung des tschechischen Elements aus Wien in die neuentstandene Tschechoslowakei ein, teils vollzog sich ihre Assimilation an die deutschsprachigen; Wiener trotz ihrem eigenen minderheitsschutz-rechtlich garantierten Schul-, Vereins- und Pressewesen in raschem Tempo. Als Hitler Oesterreich besetzte, erkannte er den Wiener Tschechen, die bis dahin alle österreichische. Staatsbürger gewesen waren, keinerlei sprachliche und rechtliche Sonderstellung mehr, zu; sie erhielten, wie alle anderen Oesterreicher, deutsche Pässe und mußten während des Krieges in der Deutschen Wehrmacht dienen, zum Unterschied von den Tschechen des „Protektorats Böhmen und Mähren“. Der Umstand der totalen Gleichschaltung im Nazi-Reiche hatte es zur Folge, daß nach 1945 ein großer Teil der noch tschechisch fühlenden Wiener dem dringenden Rufe Prags Folge leistete, Oesterreich zu verlassen und in der Tschechoslowakei zur Neubesiedlung der Sudetengebiete beizutragen. Das Endergebnis all dieser Prozeduren mit den Wiener Tschechen im Laufe einer Generation igt es, daß sich heute statistisch (nach Schul- und Kirchenbesuch oder Vereinsmitglied-schaft) nur noch rund 20.000 Tschechen in Wien ermitteln lassen.

Das Führungsgremium der Wiener tschechischen Minderheit ist der Verein „Barak“. Die meisten seiner Mitglieder sind, der Struktur der tschechischen Bevölkerung Wiens entsprechend, Sozialdemokraten und lehnen sich polirisch an die SPOe an, innerhalb der auch eine eigene tschechische Sektion besteht. Der katholischbürgerliche Flügel ist an die OeVP angeschlossen. Der Vertreter der Wiener tschechischen Minderheit im Landtag des Bundeslandes Wien ist der Abgeordnete Josef Jirava (SPOe), der Generaldirektor der WöK (Wiener öffentliche Küchengeseilschaft), der 50 Speisehäuser gehören. Das Leben der Wiener tschechischen Minderheit spiegelt sich in zwei Wochenzeitungen wieder. Die „Svobodn£ listy“ (Freie Blätter) sind politisch neutral, wenn auch überwiegend sozialdemokratisch eingestellt; die „MenSinove listy“ (Minderheiten-Blätter) sind kommunistisch und werden von Prag finanziert. Für die tschechischsprachigen Schulen in Wien sorgt der Verein „Komensky“ („Comenitts“). Sie unterstehen den österreichischen Schulgesetzen, und das heutige tschechoslowakische Regime hat formalrechtlich keinerlei Einfluß auf sie. Die verwendeten Schulbücher werden in Oesterreich hergestellt, das Lehrpersonal besteht vorwiegend aus Oesterreichern. Von den großen “tschechischen Vereinen ist noch der nationale Turnverein „Sokol“ tätig, neben ihm, in kleinerem Llmfange. auch der katholische Turnverein ,.Orel“. Der tschechische Gesangverein ,,Lumir“, der seinerzeit auf einer großen künstlerischen Höhe stand und auch Onernaufführungen ver-anrtMrete, feierte im Dezember 1955 sein 90in'bri9'es Bestehen. Der St.-Methoditis-Verein zur Erhaltung und Pflege des tschechischen Gottesd'Vnst?s in Wien zählt rund 4000 Mitglieder. Die Betreuung der tschechischen Katholiken in Wien liegt in den Hunden der Priester-vereinigung „Tröster von Gethsemani“, die außer ihrer eigenen Kirche noch sechs weitere Kirchen Wiens mit tschechischen Predigten, Beichtehören usw. versehen. Auch die PP. Red-emntoristen in der Kirche Maria am Gestade in der Wiener Altstadt haben tschechische Prediger. Bei der kürzlich veranstalteten Pilgerfahrt der österreichischen Katholiken nach Rom zogen 32 Angehörige der tschechischen Minderheit Wiens mit ihrer eigenen Vereinsfahne in den Petersdom ein.

Die Zahl der Kommunisten innerhalb der tschechischen Minderheit Wiens wird auf höchstens fünf Prozent geschätzt; dennoch darf die Gefahr der Infiltration nicht unterschätzt werden. Unter den Lehrern sind gegenwärtig, mangels einer genügenden Zahl österreichischer Lehrer mit tschechischer Muttersprache, zwei tschechoslowakische Staatsbürger, die von Prag für die Arbeit an den Wiener tschechischen Minderheitenschulen beurlaubt wurden; der eine der beiden gehörte in der Tschechoslowakei der Kommunistischen Partei an. Die offizielle Organisation, in der sich die Wiener tschechischen Kommunisten gruppieren, heißt nicht „Kommunistische Partei“, sondern nach dem Beispiel der österreichischen „Volksopposition“ ganz neutral: „Verband der Tschechen und Slowaken.“ Dieser Verband konnte in den ersten Jahren nach dem kommunistischen Putsch in Prag Mitglieder dadurch gewinnen, daß diesen versprochen wurde, sie würden häufig Gelegenheit erhalten, in die CSR zu reisen um dort ihre Familien und Verwandten wiederzusehen. Es hat sich aber gezeigt, daß die Mitgliedschaft bei diesem Verbände die Chancen nicht vergrößert hat, ein Visum in die ÖSR zu erhalten, worauf die meisten so gewonnenen Mitglieder den Verband wieder verließen.

Von Prag aus wird ständig versucht, den Kontakt mit den Wiener Tschechen, namentlich auf kulturellem Gebiete, aufrechtzuerhalten.Ende 1955 gastierte das Prager „Realistische

Theater“ mit einigen Vorstellungen aus dem klassischen tschechischen Repertoire vor den Wiener Tschechen; der kommunistisch-propagandistische Teil dieser Reise war einem eigenen Abend vorbehalten, der die Veranstalter, die Schauspieler und das Publikum auf landsmannschaftlich-gesellschaftlicher Grundlage vereinte. Die kommunistisch inspirierte „Oesterreichisch-Tschechoslowakische Freundschaftsgesellschaft“, die diese Theateraufführung vermittelt hatte, zeichnete auch für die Ausstellung „Das tschechoslowakische Buch in Oesterreich“ verantwortlich. Diese Ausstellung, die im Münchner Hof in der Wiener Mariahilfer Straße stattfand und neben Kinder-, Jugend-, Fach- und Romanliteratur zahllose Propagandaschriften und eine Sammlung politischer Briefmarken aus der CSR bei ständiger Smetana- und Dvofäk-Schall-plattenmusik brachte, übte besonders auf die Jugend eine unverkennbare Wirkung aus. Der Wiener Berichterstatter der Prager Leitung „Lidova demokracie“ stellte in seinem Berichte fest, die Buchausstellung sei der Beginn intensiverer kultureller Beziehungen zwischen Oesterreich und der Tschechoslowakei und habe auch das nationale Bewußtsein der Wiener tschechischen Minderheit verstärkt.

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