Europas blinder Fleck

Werbung
Werbung
Werbung

Die Welt ist zigeunerförmig geworden: flexibel, mobil, international - so soll sich der globalisierte Mensch präsentieren. Ideale Bedingungen für jene, sollte man glauben, die diesen Lebensstil schon immer gepflegt haben: die Roma. Eine schwere Täuschung. Nach wie vor sind Roma überall bestenfalls eine geduldete Minderheit. Unter schlimmsten Umständen leben sie in Osteuropa. Über die Misere der Roma, aber auch über erfolgreiche Integrationsprojekte in Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn lesen Sie in diesem Furche-Dossier. Redaktion: Wolfgang Machreich

Mit dem Wachsen der Europäischem Union nach Osten wachsen im Westen auch der Unmut und die Vorbehalte gegen "die von drüben". Vergessen ist die Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Das zeigt sich an häufig bemühten Schlagworten wie "Festung Europa" und "Wirtschaftsflüchtling" sowie an der sukzessiven Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen und Asylgesetzgebung. Am sichtbarsten aber manifestiert sich die Ablehnung bei jenen, die arm und zu einer über Jahrhunderten gesellschaftlich geächteten Gruppe zählen: den Roma.

1990 suchten Tausende von rumänischen Roma in Deutschland um Asyl an. Zwei Jahre später entlud sich der Volkszorn darüber in einem Mob, der in Rostock und etlichen anderen deutschen Städten mit Steinen und Brandsätzen gegen vor allem von Roma bewohnte Asylantenheime losging. Die politische Maßnahme: Einschränkung des Asylrechts, ein Rücknahmeabkommen mit Rumänien und kollektive Abschiebung der als "Scheinasylanten" und "Wirtschaftsflüchtlinge" Deklarierten. Für die pogromartigen Ausschreitungen gegen Roma in Rumänien, die der eigentliche Anlass für die Flucht dieser Minderheit gewesen sind, interessierten sich hingegen nur wenige. Zwischen 1990 und 1995 wurden 133 Häuser von Roma abgebrannt, weitere 300 durch Brachialgewalt zerstört, deren Einwohner verprügelt und vertrieben.

Kein Asyl für verfolgte Roma

Immer wieder sind seither Romaflüchtlinge aus postkommunistischen Staaten, die in Kanada, England, Belgien, Frankreich, Finnland und den Niederlande um Asyl ansuchen, Anlass für diplomatische Verstimmungen oder die Einführung der Visapflicht. 2001 stationierte Großbritannien gar eigene Grenzbeamte am Prager Flughafen, um mögliche Flüchtlinge bereits vorab an der Ausreise zu hindern. Und als Frankreich im vergangenen Jahr einer Roma-Familie aus Ungarn politisches Asyl gewährte, zeigte sich die Regierung in Budapest entsetzt. Tatsächlich erhielten nur wenige Asyl, denn nahezu alle ihrer Herkunftsländer wurden mittlerweile als sichere Drittländer deklariert.

Am 1. Mai 2004 wird die derzeitige EU-Bevölkerung mit Aufnahme von zehn neuen Länder von rund 375 Millionen um weitere 75 Millionen Bürger anwachsen. Angesichts dieser Zahl nimmt sich die geschätzte Anzahl von weltweit fünfzehn Millionen Roma gering aus. Mit acht bis zwölf Millionen bilden sie aber mittlerweile eine der größten Minderheiten Europas, deren Angehörige in fast jedem europäischen Land zu Hause sind. Allein in Rumänien leben an die 2,5 Millionen, in Ungarn etwa 600.000, Bulgarien zählt bis zu 800.000 und Tschechien 300.000. In der Slowakei bilden sie mit etwa 500.000 Angehörigen nahezu zehn Prozent der Gesamtbevölkerung.

Die Mehrheit fristet ein Leben in Armut. Begibt man sich ein paar hundert Kilometer ostwärts der österreichischen Grenze, kann man auf Siedlungen stoßen, die aus barackenartigen Hütten und Wellblechverhauen bestehen; ohne Wasser-, Kanal-oder gar Elektrizitätsanschluss. Die Bewohner dieser Elendssiedlungen, ausschließlich Roma, sind zu nahezu 100 Prozent arbeitslos. Ihre Lebenserwartung ist um zehn Jahre geringer als die der übrigen Bevölkerung und die Kindersterblichkeitsrate überdurchschnittlich hoch. Kaum eines der Kinder hat die Schule abgeschlossen oder besitzt eine qualifizierte Ausbildung; immer wieder kursieren armutsbedingte Krankheiten, TBC oder Gelbsucht.

Kein Zusammenleben möglich

Allein 600 solcher "Romadörfer" gibt es in der Slowakei, viele weitere in der gesamten Region. Aber auch in städtischen Bereichen finden sich Ghettos: beispielsweise die 13.000 Einwohner zählende "Faculteta", bei Sofia ohne Anbindung an jegliche Infrastruktur, oder Plattenbau-Distrikte wie "Lunik 9" in KosÇice. In vielen der Reformstaaten scheint ein Zusammenleben nicht möglich. Im tschechischen Usti Nad Labem ließ der Bürgermeister im Oktober 1999 eine 65 Meter lange und 1,8 Meter hohe Mauer zwischen den Häusern der Roma und Nicht-Roma errichten. Auf Grund internationaler Proteste musste sie wieder abgerissen werden - dafür wurden die NichtRoma aus der Staatskassa für einen Wohnortswechsel entschädigt.

Dass die gegenwärtige Lage der Roma einer sozialen Katastrophe gleichkommt, ist Folge der sozialistischen Assimilationspolitik, vor allem aber der wirtschaftlichen Krise, die mit der politischen Wende einherging. Mit der Schließung unrentabler Großbetriebe verloren die Roma ihren Job. Heute, da die Arbeitslosenrate in Polen, Tschechien und der Slowakei rund 20 Prozent beträgt, haben Roma am Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Zudem werden selbst qualifizierte Roma nicht gerne beschäftigt, denn zur "Altlast" zählen auch massive Vorurteile gegen diese im besten Fall als "Problem" apostrophierte Ethnie. Bis 1999 wurden die Roma in der Arbeitsverwaltung sogar mit dem eigenen Zusatz "R" geführt.

Ein Blick auf die Ausbildungslage macht skeptisch, ob sich die Beschäftigungssituation unter Roma in Zukunft ändern wird. Noch immer sind ihre Kinder überproportional in Sonderschulen vertreten. Das ärgste Beispiel stellt Tschechien dar, wo 80 Problem der Romakinder die Sonderschule besuchen. Segregation zieht sich durch den gesamten Schulbereich: Romakinder werden in gesonderten Klassen oder in miserabel ausgestatteten Schulen unterrichtet.

Keine Roma als Nachbarn

Gegen diese Form der Diskriminierung, den alltäglichen und institutionellen Rassismus anzukämpfen, zählt wohl zu einer der größten Herausforderung dieser Länder. Aber in allen europäischen Ländern sind Ressentiments und negative Stereotypen gegen diese Menschen tief verwurzelt: Roma überall an unterster Stelle der Beliebtheitsskala. So wollen 87 Prozent der Slowaken keine Roma als Nachbarn, 91 Prozent der bulgarischen Bevölkerung glaubt, Roma hätten eine Anlage zur Kriminalität, und 70 Prozent der ungarischen Bevölkerung will nichts mit Roma zu tun haben. Ein rumänisches Sprichwort besagt: "Wenn dir von der Ferne jemand entgegen kommt, weißt du nicht, ist es ein Mensch oder ein Zigeuner!"

In der Tschechischen Republik registrierten NGOs zwischen 1989 und 1999 1.250 rassistische motivierte Übergriffe und über ein Dutzend Todesopfer rassistischer Gewalttaten. Selbst der EUFortschrittsbericht zur Slowakei hält fest, dass allein im Jahr 2001 die Polizei 40 Straftaten mit rassistischem Hintergrund vermerkt hat. Immer wieder sind Roma auch Polizeigewalt ausgesetzt: Im Juli vergangenen Jahres starb der 51-jährige Karol Sendrei im Polizeirevier in Magnezitovce, Slowakei: Mit Handschellen an den Heizkörper gefesselt wurde er von der Polizei zu Tode geprügelt.

Politischer Wille fehlt noch

Die Situation der Roma scheint der "Blinde Fleck" Europas zu sein. In Tschechien, Slowakei, Rumänien, Bulgarien oder Ungarn wurden zwar in den letzten Jahren Strategiepapiere entwickelt und für unterschiedliche Belange Roma-Beauftragte eingesetzt; praktisch aber hat sich nur wenig verändert. Als EU-Kandidaten sind die Länder angehalten, die Kopenhagener Kriterien zu erfüllen. Dazu zählen auch die Respektierung der Menschenrechte und der Schutz der Minderheiten. Im Hinblick auf die Roma wurde dies nicht erreicht.

Praktisch bedarf es einer umfangreichen Bildungsoffensive, eines Antidiskriminierungsgesetzes, affirmative actions, konkreter Maßnahmen zur Verhinderung von Diskriminierung sowie Verbesserung der Beschäftigungs- und Wohnsituation. Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Verbesserung ist aber in erster Linie politischer Wille und mehr finanzielle Mittel als den Regierungen derzeit zur Verfügung stehen.

Die Autorin, selbst Roma, ist Politikwissenschaftlerin und Mitarbeiterin im Romano Centro in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung