Ein Volk im ewigen Ghetto

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Die Integration der Roma ist ein Prüfstein für den Erfolg des EU-Beitritts Bulgariens.

Der Grund für das wilde Hupkonzert auf dem Levski-Boulevard ist so schnell gar nicht auszumachen. Denn hier, am Verkehrsknotenpunkt Sofias, wo sich der wichtigste Ringboulevard mit der Zarigrad-Chaussee kreuzt, die mitten durchs Zentrum der bulgarischen Hauptstadt führt, ist eigentlich von morgens bis abends Rushhour. Und die Nerven der Bulgaren liegen blank. Siebzehn Nach-Wende-Jahre voller Überlebenskämpfe haben ihre Spuren hinterlassen. Es heißt, ein Viertel der Bevölkerung sei inzwischen reif für den Therapeuten.

Da genügt schon ein einzelner, mit Wertstoffen überladener Pferdewagen mit einem stehenden Zigeuner auf dem Kutschbock, um die Gemüter im brodelnden Straßenverkehr zum Überkochen zu bringen. Denn dieses Fuhrwerk weckt Ängste, von denen sich westliche Journalisten auf der Jagd nach exotischen Eindrücken, die so etwas knipsen und sich dabei auch noch originell vorkommen, keinen Begriff machen. Denn es erhärtet den ängstlichen Verdacht, dass Bulgarien rückständig sei - und die Bulgaren keine richtigen Europäer.

Neue Ressentiments

Neben den Journalisten scheinen auch EU-Delegationen immer nur die Armut der Roma zu bemerken - oder mit zweierlei Maß zu messen: Die Armut der Bulgaren gilt als Folge "typischen Balkanschlendrians", die Armut der Zigeuner vom Stamm der Roma hingegen als Folge von Diskriminierung. Dies alles registrieren die Bulgaren höchst empfindlich - und sind verletzt.

Das politisch Verhängnisvolle daran ist, dass diese Wahrnehmung begleitet wird von dem Eindruck, dass die EU ihre Strukturfördermittel so gut wie ausschließlich für die Roma locker macht. Dies mag objektiv falsch sein. Doch Zahlen sind abstrakt, Ereignisse hingegen anschaulich. Die Presse, die mit Stimmungen Auflage macht, braucht Bilder. Es dringt nicht durch, dass von den knapp zwölf Milliarden Euro, die die EU in der Haushaltsperiode von 2007 bis 2013 (bei Erfüllung der entsprechenden Förderkriterien) für Bulgarien locker macht, nur 670 Millionen für die soziale Integration und kulturelle Selbstbestimmung der Roma aufgewendet werden. Sehr wohl macht es hingegen die Runde, wenn ein Pensionist erschlagen wird, weil er einer Gruppe von Roma sein Mobiltelefon nicht schenken wollte. Hinzu kommen offene Ungerechtigkeiten: In einem Leserbrief beklagte eine bulgarische Mutter, dass der Kontrolleur ihr Kind, das ohne Fahrkarte fuhr, mit einem "erhöhten Beförderungsentgelt" belegte, den mitfahrenden Zigeunern aber die Strafe erließ mit dem Argument: "Die zahlen doch sowieso nicht!"

Wo sich so viel Frust ansammelt, da werden auch Schuldige gesucht, und Politiker, die rasch Karriere machen wollen, wissen, dass die Karte des Antikommunismus ausgereizt ist; sie setzen folglich auf die populistische Tour: Wir räumen auf! Wir machen sauber! Wir bestrafen die Schuldigen! Wir schaffen Gerechtigkeit! Hinter all dem verbirgt sich ein kommunikatives Problem: Es wird, wie das bulgarische Helsinki-Komitee für Menschenrechte nicht müde wird zu betonen, der Bevölkerungsmehrheit einfach nicht vermittelt, dass es im Interesse aller Bulgaren läge, wenn den Roma nachhaltig geholfen würde.

Probleme mit Geschichte

In den Wohnvierteln der Roma wuchern nämlich nicht nur die Wellblechbaracken, es grassieren auch die Tuberkulose - eine typische Armutserkrankung - und mancherorts die Immunschwächekrankheit Aids als Folge mangelnder Aufklärung. Geschätzte 20 Prozent der Roma sind Analphabeten, mit steigender Tendenz, und 60 bis 80 Prozent gehen keiner geregelten Arbeit nach.

Wie kam es dazu? Die Roma sind eine in viele Sippen und Clans untergliederte ethnische Gruppierung, die im Mittelalter aus Indien kam und seit dem 15. Jahrhundert frei durch das damalige Osmanische Imperium nomadisierte, dem auch Bulgarien bis 1908 als Fürstentum angehörte. Staatliche Programme, die Roma sesshaft zu machen, wurden erstmals ausgerechnet von den Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg angegangen - mit dem ihnen eigenen Dirigismus. Sie brachten viele der Roma als landwirtschaftliche Hilfsarbeiter in den Kooperativen unter, wiesen ihnen entsprechende Wohnviertel zu (was auch rigide Umsiedlungsprogramme einschloss) und versuchten, ihnen mit Anreizen zum Schulbesuch zumindest elementare Kenntnisse zu vermitteln.

Der Fall des Eisernen Vorhangs trug nun gleich doppelt zur Bildung jener Ghetto-Siedlungen bei, die westliche Delegationen mit solchem Entsetzen in Bulgarien "besichtigen" kommen. Als um 1995 ein Großteil der Kooperativen aufgelöst wurde, verloren die Roma ihre Existenzgrundlage und flüchteten vom Land in die Städte, wo irgendein Verwandter schon aufzutreiben war, an dessen Häuschen man eine Wellblechbaracke anlehnen konnte.

Die zweite große Tragödie waren die Kriege im zerfallenden Ex-Jugoslawien. Auch von dort ergossen sich Flüchtlingsströme nach Bulgarien. Und die Elendsviertel wachsen seither unkontrolliert.

"Jahrzehnt der Roma"

Die Folgeprobleme sind drastisch und so nie dagewesen: Die Sterblichkeit in den Zigeunervierteln ist erschreckend, und die bulgarische Volkszählung von 2001, bei der 370.000 Menschen als ethnische Roma erfasst wurden, gilt bei weitem nicht als zuverlässig. Experten schätzen die Zahl der Roma auf mindestens das Doppelte, da 2001 viele Roma von ihrem Recht Gebrauch machten, ihre ethnische Zugehörigkeit selbst zu bestimmen. Viele Roma muslimischen Glaubens bezeichneten sich als "Türken". Die gelten wenigstens noch als sauber und fleißig, dachte man - obwohl die verheerende Propaganda bei gleichzeitiger Vertreibung durch die Kommunisten in den 1980er Jahren noch immer Wirkung zeigt.

Nun hängt alles von dem 2005 ausgerufenen "Jahrzehnt der Roma" ab, in dem sowohl Bulgarien als auch Rumänien vor einer komplexen Aufgabe stehen: Sie müssen der Bevölkerungsmehrheit vermitteln, warum es spezielle Wohnungsbauprogramme, Arbeitsbeschaffungsprogramme und Bildungsprogramme für Roma gibt, die vom Staat - also aus Mitteln der Steuerzahler - kofinanziert werden müssen. Erst dadurch wird die Wohlfahrt aller Bürger Bulgariens möglich.

Der Autor lebt als Übersetzer und Journalist in Sofia.

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