EU-Beitritt als Überlebensstrategie

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Eigentlich müsste es den Roma in der heutigen Welt, im heutigen Europa sehr gut gehen. Flexible, bewegliche anpassungs- und beschleunigungsfähige Menschen werden gesucht, Sesshaftigkeit ist verpönt. Die Welt ist "zigeunerförmig" geworden, meinen die beiden Gießener Soziologen und Tsiganologen Reimer Gronemeyer und Wilfried Lamparter in einer neuen Studie zur Situation der Roma herausgegeben vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa. Nur die Zigeuner können von der zigeunerförmigen Welt nicht profitieren, ja in Mittel- und Osteuropa hat sich ihre Situation mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime sogar drastisch verschlechtert.

Mit der Umstellung auf die Marktwirtschaft wurden die Roma in den vormals staatssozialistischen Ländern zwar vom Zwang zur Lohnarbeit befreit, und das Verbot traditioneller zigeunerischer Erwerbsformen fiel formal ebenfalls weg. Deswegen kam es aber zu keinem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg, sondern nur zu einer extrem hohen Arbeitslosigkeit, die in vielen Roma-Niederlassungen bis zu 100 Prozent beträgt und zu einem Leben weit unter dem Existenzminimum zwingt.

Außerdem wurden die Roma zur Zielscheibe von Aggression und Hass für alle Probleme, die der Übergang von Staat- zu Marktwirtschaft verursachte. Schon vorher hat es Zigeunerfeindlichkeit auch östlich des Eisernen Vorhangs gegeben. Der Unterschied zu heute liegt jedoch darin, dass sich Antitsiganismus damals offiziell in Missbilligung und Unterdrückung der "zigeunerischen Lebensweise" äußerte, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus die Roma aber zu Objekten rassistischer Angriffe wurden. Zwischen 1991 und 1997 wurden 1.250 rassistisch motivierte Überfälle auf Roma, darunter Morde und Brandschatzung gezählt.

Grundlegende zivilisatorische Werte wurden gegenüber den Roma außer Kraft gesetzt. So fanden im Umbruchs-Winter 1989 in Rumänien unter Beteiligung und Hilfestellung der Staatsmacht Pogrome statt, Siedlungen wurden niedergebrannt, Treibjagden auf Roma veranstaltet. Gleiches, da und dort in abgeschwächterer Form, gab es in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Ex-Jugoslawien, in nahezu jedem ehemaligen Ostblockland. Umsturzverlierer, Skinheads - bestätigt und ermuntert von Kult-Musikgruppen wie der ungarischen "Zigeuner-Zerstörer-Band" - waren die Täter dieser Gewalt-Inszenierungen, ihren Schlachtrufen klatschte allerdings ein Großteil der Bevölkerung Beifall. Und im September letzten Jahres sorgte in der Slowakei eine Forderung, die über Mobiltelefone versandt wurde, für Aufsehen: 50 Minuten ohne Gebühr für jeden Rom den du tötest. "Die Enttäuschung der Verlierer bricht sich in Gewalt gegen jene Bahn, die noch ärmer dran sind als sie selbst", analysieren Gronemeyer und Lamparter.

Ergreifen Roma die Flucht, müssen sie oft sehr schnell erfahren, dass ihnen auch im Westen alles andere als Sympathie entgegenschlägt. Die Fluchtbegründungen werden heruntergespielt, die politische Bedrohung als Motiv nahezu gänzlich ignoriert. Auch bei jenen Roma, die mit Ausbruch des Jugoslawienkrieges ihre Heimat verlassen mussten, um der bevorzugten Rekrutierung als Kanonenfutter zu entgehen. Vor einigen Jahren versuchte die deutsche Regierung mit Geldzahlungen den rumänischen Staat zur Rücknahme "ihrer" Roma zu bewegen. Ansonsten trugen der Entzug der Sozialhilfe, die Anwendung der Schubhaft dazu bei, den Aufenthalt der Roma im Westen so gut wie möglich zu erschweren, ihnen die Ausreise so schmackhaft wie möglich zu machen.

Gelingt es aber einigen Roma, dass ihnen politisches Asyl zuerkannt wird - wie im März dieses Jahres einer ungarischen Roma-Familie in Straßburg -, heizt dass die Anti-Zigeuner-Stimmung im Land aus dem sie geflüchtet sind, noch mehr an. "Jetzt heißt es, die Roma sind nicht nur Schmarotzer, sondern auch noch Landesverräter", erklärte der Ombudsmann für ungarische Minderheiten, Jenö Kaltenbach, in einem Interview mit der Austria Presse Agentur. Außerdem kursieren Gerüchte, wonach ausländische Geheimdienste die Ausreise der Roma unterstützen um die EU-Aufnahmekandidatenländer in der westlichen Öffentlichkeit zu diskreditieren.

Vor diesem Hintergrund ist das entschiedene Eintreten von Roma-Vetretern für eine rasche EU-Erweiterung verständlich. Die Aufnahme ihrer Heimatländer in ein gemeinsames Europa wird für die fünf bis sieben Millionen Roma in den EU-Beitrittsländern Mittel- und Osteuropas sogar zur "nackten Überlebensfrage", schreibt die Innsbrucker Politikwissenschafterin Erika Thurner im erwähnten Sammelband zur Situation der Roma. Die Hoffnung der Roma beruht, laut Thurner, auf der Definition der EU als Wertegemeinschaft, als einer Gemeinschaft, die dem Anti-Rassismus und der Bekämpfung von Xenophobie Prioritäten einräumt. Mit dem Beitritt sollen die EU-Minderheiten- und Menschenrechtsstandards auch in Mittel- und Osteuropa verbindlich werden und zu einer Entschärfung der Situation beitragen.

Die Problematik ist den EU-Offiziellen durchaus bewusst. Walter Schwimmer, Generalsekretär des Europarates, warnte am Internationalen Tag der Roma (8. April) davor, dass die schwierige Lage der größten Minderheit in Europa, "den sozialen Zusammenhalt der Mitgliedsstaaten gefährden kann". Und EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen besucht keines der Aufnahmeländer, ohne nicht auf die Integration der Roma in die Mehrheitsgesellschaften zu drängen. Eine Aufgabe, die in der EU selbst, wie die jüngsten Rassenunruhen in England zeigen, noch keineswegs bewältigt ist, wo die EU selbst erst noch auf dem Weg ist, Schutzraum und Schiedsgericht für bedrängte Minderheiten zu werden.

Eine Analyse der Situation der Roma in Ungarn lesen Sie im Interview mit György Dalos auf Seite 14.

Die Roma in Mittel- und Osteuropa.

Hg. von Emil Brix. Zeitschrift des Institutes für den Donauraum und Mitteleuropa. Böhlau Verlag, Wien 2001, brosch., 124 Seiten, öS 240,-/e 17,44

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