Minderheiten zwischen Stolz und Schikanen

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Ungarn hat große Minderheiten, allen voran die Deutschungarn und die Roma. Das Verhältnis zwischen den Volksgruppen und der national geprägten Regierung ist zum Teil sehr gespannt.

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Ungarn hat große Minderheiten, allen voran die Deutschungarn und die Roma. Das Verhältnis zwischen den Volksgruppen und der national geprägten Regierung ist zum Teil sehr gespannt.

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Bei der Volkszählung 2011 bekannten sich 640.000 Menschen zu einer der 13 in Ungarn anerkannten Minderheiten. Das sind nicht einmal sieben Prozent einer Bevölkerung von knapp zehn Millionen. Gegenüber der Erhebung 2001 bedeutet das eine Steigerung von 106.000 Personen. In Wahrheit dürften es aber bedeutend mehr sein. Schon vor 15 Jahren hatte das Außenministerium in Budapest die Angehörigen von Minderheiten auf 850.000 bis knapp über eine Million geschätzt. Die Diskrepanz erklärt sich daraus, dass man sich in einem Land, wo der völkisch geprägte Nationalstolz gefördert wird, nicht gerne zu einer ethnischen Minderheit bekennt. Das gilt besonders für die größte Minderheit: die Sinti und Roma, zu der sich nur 316.000 ungarische Staatsbürger bekannten.

Weniger Probleme, ihre ethnische Zugehörigkeit zu deklarieren haben die etwa 200.000 Ungarndeutschen. Die zweitgrößte Volksgruppe pflegt ihre Sprache und Traditionen mit großem Stolz. Es folgen Slowaken, Kroaten, Rumänen und Serben. Alle werden sie durch das Gesetz über die Rechte der Nationalen und Ethnische Minderheiten von 1993 geschützt. "Das Bekennen, die Deklarierung der Angehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen Gruppe oder Minderheit ist individuelles und unveräußerliches Recht der Person. Niemand kann gezwungen werden, eine Erklärung über seine Zugehörigkeit zu einer Minderheit abzulegen," heißt es da in der offiziellen Übersetzung. Über Minderheitenselbstverwaltungen dürfen sie ihre Interessen auf lokaler bzw. Landesebene vertreten. Theoretisch. Praktisch wird die Selbstverwaltung aber von Günstlingen der Regierung Orbán in Budapest gesteuert.

Die Ungarndeutschen dürfen sich zusätzlich der Protektion durch die Bundesrepublik erfreuen, die 1992 im "Deutsch-Ungarischen Freundschaftsvertrag" verankert wurde. Das Auswärtige Amt in Berlin unterstützt sie durch eigene Fördergelder. Für die Roma fungieren der Europarat und die EU als Schutzmächte.

Versickernde Förderungen

Die Europäische Kommission hat dafür gesorgt, dass die Integration der Roma ein fester Bestandteil der politischen Agenda in Europa wurde. Im Jahr 2013 erhielten Ungarn und vier weitere Mitgliedstaaten länderspezifische Empfehlungen zur Umsetzung nationaler Roma-Integrationsstrategien.

Die Kommission in Brüssel verbucht ein neues Gesetz in Ungarn, das eine zweijährige Vorschulzeit für alle Kinder zwingend vorschreibt, als Erfolg ihres Wirkens. Von den EU-Geldern für die Roma-Selbstverwaltung (ORÖ) ist viel in den Taschen von Funktionären versickert. Ein Programm zum Aufbau von Produktionsgenossenschaften (17 Mio. Euro) ist deswegen genauso gescheitert, wie die Ausbildung von 1000 Sozialarbeiterinnen (fünf Mio. Euro). Gegen ORÖ-Chef Flórián Farkas ermittelt die Staatsanwaltschaft.

2011 verabschiedete die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán unter dem Druck der EU eine Roma-Strategie. Für die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky wird damit eine wohlmeinende "Zigeunerpolitik" verfolgt: "Die Roma werden zuerst segregiert, damit sie dann in die Mehrheitsbevölkerung integriert werden können". Gegen die strukturelle Ausgrenzung der Roma werde nichts unternommen.

Zwar hütet sich Premier Orbán, diskriminierende Äußerungen von sich zu geben, doch lässt er Bürgermeister, die die Roma in den Dörfern schikanieren, nach Belieben walten. Ein Gesetz, das Sozialhilfeempfänger zu kommunaler Arbeit (közmunkás) verpflichtet, gibt ihnen dafür die Handhabe. So hat der Bürgermeister des Städtchens Ózd, der der rechtsextremen Jobbik angehört, flächendeckend Videokameras installieren lassen, um die Arbeiter zu überwachen. Wer am Monatsende die 165 Euro für die közmunkás beziehen will, darf pro Stunde nicht mehr als fünf Minuten rasten.

Schikanen der Behörden

Wer dreimal fehlt -und sei es wegen Krankheit -fliegt aus dem Programm. Vergangenes Jahr ließ der Bürgermeister im Hochsommer die Wasserleitung der Roma-Siedlung drosseln.

Selbst die neue Verfassung, die eigentlich Minderheiten schützen soll, wird oft gegen die Roma ausgelegt. So verurteilte eine Richterin 2010 mehrere Männer, die nach Krawallen von Neonazis ein verdächtiges Fahrzeug mit Skinheads, das nächtens langsam durch den Roma-Slum der Stadt Miskolc fuhr, attackierten, zu insgesamt 34 Jahren Haft. Obwohl nur geringer Sachschaden entstand und drei mutmaßliche Neonazis leicht verletzt wurden, sah die Richterin den Tatbestand der "rassistisch motivierten Gewalt" erfüllt. Der Übergriff sei klar gegen eine Gruppe von Angehörigen der ungarischen/magyarischen Bevölkerung und die ungarische Nation gerichtet gewesen.

2011 terrorisierten rechte Bürgerwehren in der Ortschaft Gyöngyöspata wochenlang die Roma-Bevölkerung. Erno Kállai, der Ombudsmann für Minderheitenrechte, warf der Regierung darauf in seinem Bericht amtlichen Rassismus vor: Bewohner würden für kleinste Vergehen mit horrenden Geldstrafen belegt. Weitere Grundrechte würden einfach ignoriert, Ziel scheine die Vertreibung zu sein. "Angst, Misstrauen, Denunziation, Rassentrennung und erhöhte Polizeipräsenz" seien Teil des Alltags geworden. Die Institution des Minderheitenombudsmanns wurde danach abgeschafft.

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