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KEIN LUSTIGES ZIGEUNERLEBEN

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50 Jahre nach dem sogenannten „Auschwitzerlaß" und drei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die Roma in Osteuropa wieder Opfer von Gewalt und Vertreibung.

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50 Jahre nach dem sogenannten „Auschwitzerlaß" und drei Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sind die Roma in Osteuropa wieder Opfer von Gewalt und Vertreibung.

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29. Juni 1992: Gegen 6 Uhr früh umstellen im bulgarischen Pazardjik schwerbewaffnete Polizeieinheiten die Häuser der Roma-Gemeinde. Bei dieser Aktion werden einem Roma vor den Augen seiner Frau und seiner Kinder mit einem Hammer die Beine gebrochen. Eine andere Familie muß sich an die Wand ihres Hauses stellen und wird mit dem Erschießen bedroht.

20. November 1992: Um Mitternacht dringt im rumänischen Ort Comanesti eine bewaffnete Polizeieinheit in das Haus einer Roma-Familie ein. Zwei Brüder werden von der Polizei zuerst verprügelt und anschließend erschossen. Der Vater der Familie hat mehr Glück. Auch er wird auf Befehl eines Oberstleutnants beschossen, überlebt aber.

Zwei von vielen Beispielen aus Osteuropa, die amnesty international und die Gesellschaft für bedrohte Völker gesammelt haben. Die Gewalttaten gegen Romas häufen sich. Auch aus der Slowakei, aus der Tschechischen Republik oder Ungarn wird von Gewaltakten gegen Romas und Vertreibungsaktionen berichtet. Selten werden deshalb die jeweiligen Behörden aktiv. So gut wie nie kommt es zu Verurteilungen.

Mit der vielbesungen „Zigeunerromantik" hat das Leben der Roma in Osteuropa so gut wie nichts zu tun. Während der kommunistischen Herrschaft wurden sie gezwungen, ihre Lebensweise zu ändern, wurden sie zunehmend an den Rand gedrängt.

Nun, nach den Revolutionen von

1989 sind sie oftmals als erste von der immer schlechter werdenden wirtschaftlichen Situation betroffen. Niedriges Ausbildungsnivau, desolate Wohnverhältnisse, unzureichende ärztliche Versorgung und hohe Säuglingssterblichkeit kennzeichnen die Lebensumstände der Roma in Osteuropa. „Viele dieser Menschen", heißt es in einem Bericht des Europarates, „leben heute unter Bedingungen, die denen in der Dritten Welt ähneln."

Langsam dringen die Probleme der Roma in das Bewußtsein der europäischen Öffentlichkeit. So war die Lage der Roma und Sinti eines der Hauptthemen bei der Regionalkonferenz des Europarates Mitte März in Straßburg. Neben 200 Abgeordneten von Stadträten und Regionalparlamenten aus den 26 Mitgliedsstaaten des Europarates nahmen daran auch Gastdelegationen aus mehreren mittel- und osteuropäischen Ländern teil.

In der in Straßburg verabschiedeten Resolution wurden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, vor allem die Wohnsituation sowie die Gesundheitsversorgung und die Ausbildungsmöglichkeiten der Roma und Sinti zu verbessern. Über Einzelprojekte solle es zu einer „positiven Diskriminierung" kommen, wie sie auch für andere in der Gesellschaft benachteiligte Gruppen bestünde, meinte der Ire Michael O 'Brian, einer der Autoren der Resolution.

Auch an Roma und Sinti stellt die Entschließung Forderungen. Sie sollen die Gesetze des Landes respektieren, in dem sie sich aufhalten und mit den Behörden zusammenarbeiten, um eine Verbesserung ihrer Situation herbeizuführen und „um Konflikte mit anderen Volksgruppen zu vermeiden".

Vor allem sollen Roma und Sinti eine europaweite Vereinigung bilden, die Regierungen und Institutionen als Ansprechpartner dienen könne. Für die Roma sei das ein großes Problem, bestätigte der Rumäne Nicolae Gheorghe, stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Union der Roma, am Rande der Konferenz. Vor allem ethnische und religiöse Unterschiede seien bislang Hinderungsgründe gewesen. Die Gründung eines Europäischen Roma-Parlaments, die im vergangenen August in Budapest von 22 Organisationen aus elf Ländern beschlossen wurde, läßt aber hoffen.

Interne Reibereien, Angst und der Kampf um die nackte Existenz schwächen die Roma. Rumänien ist in dieser Hinsicht ein krasses Beispiel. Dort streiten etwa zwei Dutzend Organisationen um den Vertretungsanspruch der Roma.

Schlagzeilen macht dabei immer wieder der „Internationale König der Roma", Ion Cioaba (siehe Foto unten). Dieser kündigte im vergangenem Sommer einen Marsch nach Bonn an, um Entschädigungen für das der Volksgruppe in der Nazizeit angetane Unrecht durchzusetzen. Der Marsch fand nie statt. Und Cioaba selbst wird von zahlreichen Roma-Vertretern vehement abgelehnt.

Wer am Existenzminimum lebt, hat andere Sorgen. Zum Jahreswechsel präsentierte die UN-Welternährungsorganisation (FAO) eine Studie, wonach immer mehr Osteuropäer bis zu 80 Prozent ihrer Einkünfte für Lebensmittel aufwenden müssen. Besonders betroffen vom Überlebenskampf sind Rentner, kinderreiche Familien und Angehörige der Roma und Sinti. Und in Bulgarien kam eine Regierungskommission nach dem Besuch von Roma-Lagern im Winter zu der schlichten Erkenntnis, daß ein Teil der Roma an Hunger und Kälte sterben werden.

Angesichts von Gewalt, Verfolgung und Hunger sehen immer mehr Roma die einzige Überlebensmöglichkeit im Westen. Doch dort rinden sie ein volles Boot vor. Sowohl von Österreich als auch von Deutschland sind die meisten osteuropäischen Länder als „verfolgungsfrei" eingestuft worden. Dies ermöglicht den Regierungen, Flüchtlinge möglichst schon an der Grenze zurückzuweisen. Bilaterale Schubabkommen machen die „Festung Europa" noch effektiver. Demnach können Staatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines anderen Landes aufhalten, „ohne besondere Formalitäten zurückgenommen werden".

Ab 14. Juni wird in Wien für knapp zwei Wochen die UN-Weltkonferenz für Menschenrechte stattfinden (FURCHE 14/1993). In den Tagen davor werden regierungsunabhängige Organisationen (NGOs) ein großes Forum abhalten, zu dem Vertreter der Roma und Sinti erwartet werden. Wie notwendig ihre Teilnahme ist, zeigt eine Resolution des Europarates von Anfang Februar. Die Parlamentarische Versammlung stellt darin fest, daß selbst die Menschenrechtskonvention „Minderheiten ohne Territorium" diskriminiere, weil sie das Recht von „Vagabunden" auf Freiheit genauso einschränke wie das von Alkoholikern und Rauschgiftsüchtigen. Es müsse klargestellt werden, so die Parlamentarier in ihrer Resolution, daß sich der Ausdruck „Vagabunden" in der Konvention nicht „notwendigerweise auf Leute bezieht, die als Nomaden leben".

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