Der Roma Skandal

19451960198020002020

Auf Europas Müllhalden gekippt

19451960198020002020

Auf Europas Müllhalden gekippt

Werbung
Werbung
Werbung

Die Welt ist „zigeunerförmig“ geworden: flexibel, mobil, international … Ideale Bedingungen für jene, die diesen Lebensstil schon immer gepflegt haben? Schwere Täuschung: Die Ausgrenzung der Roma geht auch nach millionenschweren EU-Anti-Diskriminierungsprojekten weiter und die Gewalt gegen die Minderheit nimmt zu (S. 22). Dieses Furche-Dossier fragt nach den Ursachen des fortgesetzten Gegen- statt Miteinanders genauso wie nach Herkunft (S. 23) und Zukunft der Roma.

Roma in Europa – Dritte Welt in der Ersten. Und die Fehler, die man von der Entwicklungshilfe her kennt, werden bei dieser Minderheit wiederholt. Und die Bildungsprogramme müssen scheitern, solange nicht die Mehrheit dazulernt, Roma als Roma akzeptiert.

Wer mit dem Zug nach Belgrad kommt, entdeckt die Roma-Elendssiedlung „Beograd Gazela“ kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof. Wer mit dem Auto anreist, kann nicht über die Autobahnbrücke Most Gazela fahren, ohne den Slum darunter zu bemerken; und auch wer auf der Save per Schiff Serbiens Hauptstadt ansteuert, kommt an den Ausläufern der zentralsten der über 100 Belgrader Roma-Siedlungen vorbei.

Niemand, der in der Stadt lebt oder sie besucht, kann sagen, er oder sie weiß nicht um diesen europäischen Slum: Ein Durcheinander aus Plastikplanen, Wellblech, Stromleitungen, Holzpaletten, Autoreifen … Dazwischen wuseln die Slumbewohner herum, vor allem Kinder, viele Kinder, dreckige Kinder, mit Rotznasen, mit strubbeligen Haaren … Neben dem zum Hüttenbau genutzten Müll lagert der zum Weiterverkauf gesammelte Müll: Kartons, Alteisen, Plastikflaschen, Glas …

In dem einen Müll leben die Roma, von dem anderen Müll leben sie – in Belgrad, in Novi Sad, wo die Roma-Siedlung den bezeichnenden Namen „Bangladesch“ trägt, und andernorts in Serbien, auf dem Balkan, in Südost- und Osteuropa … – Dritte Welt in der Ersten Welt! Und eine Minderheit geeignet als Sündenbock und Feindbild zugleich. Die Roma sind für ihre Erste-Welt-Nachbarn weniger wert als der Müll in dem sie hausen, Abfall in den Augen der Nicht-Roma, auf den man sich hin- und drauftreten traut.

Aufflackernder Hass

Die Siedlungen in und um Belgrad sind zur Zielscheibe für Übergriffe geworden. Es gibt Angriffe in der Nacht, Molotowcocktails fliegen, wo ein Funke genügt, um die Baracken in Flammen aufgehen zu lassen. Die Bewohner haben Wachen aufgestellt, weil ihnen die Regierung nicht zuverlässig hilft, weil sie der Polizei misstrauen.

Belgrad ist keine Ausnahme – Gewaltausbrüche gegen Roma gibt es auch in den Roma-Ghettos anderer europäischer Städte: „Caccia agli zingari“ – Jagd auf Zigeuner nennen das italienische Medien, nachdem in Mailand, Rom, Neapel aufgebrachte Bürger zur Selbstjustiz gegriffen und Roma-Siedlungen attackiert haben.

„Vor kurzem besuchte ich eine Gruppe HIV-positiver Frauen in den Vororten Kampalas in Uganda. Sie leben unter besseren Konditionen als die Roma in Italien“, sagte ein Vertreter des Roten Kreuzes. Und dass die Roma in der gesellschaftlichen Achtung unter der Stufe von Aussätzigen rangieren, beweist ein Foto in diesem Sommer in der italienischen Presse, das schließlich doch noch für Protest gesorgt hat: Das Bild zeigt zwei ertrunkene Roma-Mädchen an einem Strand bei Neapel. Im Hintergrund der mit Handtüchern bedeckten Leichen sitzt ein Paar beim Sonnenbaden.

„Ihr wisst alle, dass wir hier sind. Warum helft ihr uns nicht?“, fragt der Belgrader Rom Ilija Jovanovi´c. Jovanovi´c hat recht: Alle wissen von den Roma; geschätzte zwölf Millionen Menschen sind nicht zu übersehen, auch wenn sie in anderen europäischen Städten nicht so zentral hausen wie in Belgrad. Jovanovi´c hat aber auch unrecht. Es stimmt nicht, dass den Roma nicht geholfen wird – besser gesagt, zu helfen versucht wird.

Es gibt hunderte Hilfsprojekte privater, kirchlicher, staatlicher, europäischer Träger. Und es werden Millionen Euro an Spenden- und Steuergeldern in diese Projekte gepumpt. Und viele dieser Projekte sind ja auch erfolgreich, manche sogar sehr erfolgreich. Trotzdem: An der Gesamtsituation der Roma in Europa ändert sich nichts zum Besseren; im Gegenteil, das Bild verdüstert sich.

Ein Vergleich mit der Entwicklungszusammenarbeit liegt nahe: Auch da wird geholfen; auch da gibt es kompetente Organisationen mit tausenden erfolgreichen Projekten – doch auch da: Die Dritte Welt bleibt Dritte Welt.

Lebenserwartung: 49!?

Von ein paar Ausnahmen abgesehen, bleibt die Mehrheit der Länder hinter den Millenniums-Zielvorgaben, ist die menschliche Entwicklung in Schlüsselbereichen ins Stocken geraten und die Ungleichheiten vergrößern sich. So hat jemand, der heute in Sambia lebt, eine geringere Chance, 30 Jahre alt zu werden, als jemand, der 1840 in England geboren wurde. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Roma in Serbien rangiert mit 49 Jahren nicht weit darüber – doch was dagegen und für die Roma tun?

Zuerst die Unterschiede zwischen den Roma-Gruppen akzeptieren: Fahrende haben andere Bedürfnisse als sesshafte Roma – den einen ist mit der Errichtung von Infrastruktur zum zeitweisen „Andocken“ geholfen; die anderen wird man mit Zwangsumsiedelungen in Sozialwohnungen nicht aus dem Elend holen. Die Abhängigkeit bleibt, die Bettlermentalität bleibt, der Groll der „Weißen“ über die Bevorzugung der „Schwarzen“ bleibt und das rumänische Sprichwort: „Wenn dir von der Ferne jemand entgegenkommt, weißt du nicht, ist es ein Mensch oder ein Zigeuner!“

Es ist immer ein Mensch! – Deswegen greift es zu kurz, nur die Roma in Bildungsmaßnahmen zu stecken, so unersetzlich diese sind. Denn was ist der Effekt? Die es aus dem Roma-Elend rausschaffen, sind weg. Den Brain Drain, den Weggang der Besten, den man in Afrika beklagt, gibt es auch bei den Roma. Weil es nach wie vor eine Schande ist, Roma zu sein.

Um das zu ändern, muss Bildung, Fördern und Fordern auch für die „Gadsche“ gelten. Die Nicht-Roma sind gefordert, ihren Rassismus abzulegen. Ansonsten bleibt die Roma-Hilfe dem früheren Fehler der Entwicklungshilfe verhaftet, nicht auf Augenhöhe mit den Betroffenen und damit abgehoben von den wirklichen Bedürfnissen zu sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung