EINE FRAGE an aufrechte Ungarn

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Am 2. Oktober lässt Ungarns Premier Viktor Orbán seine Landsleute über die Flüchtlingspolitik abstimmen. Am Ausgang besteht kein Zweifel.

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Am 2. Oktober lässt Ungarns Premier Viktor Orbán seine Landsleute über die Flüchtlingspolitik abstimmen. Am Ausgang besteht kein Zweifel.

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Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn und Ungarns Premier Viktor Orbán werden keine Freunde mehr werden. Asselborn hatte letzte Woche in der deutschen Zeitung Die Welt den Rausschmiss Ungarns aus der EU angeregt. Orbán ließ via Außenminister Péter Szijjártó kontern, Asselborn sei eine aufgeblasene und instabile Persönlichkeit. Was den Luxemburger zu seinen Tiraden motiviert hatte, war das bevorstehende Referendum, mit dem Orbán sich von seinen Landsleuten die Abwehrhaltung gegen Flüchtlinge absegnen lassen will.

Am 2. Oktober ist das ungarische Volk aufgerufen, folgende Frage zu beantworten: "Wollen Sie, dass die Europäische Union auch ohne Zustimmung des (ungarischen) Parlaments die verpflichtende Ansiedelung nichtungarischer Staatsbürger in Ungarn vorschreiben kann?"

Am Ausgang der Volksbefragung ist nicht zu zweifeln. Kein aufrechter Ungar will sich etwas vorschreiben lassen. Wer die Suggestivfrage mit "Ja" beantwortet, macht sich automatisch zum Feind von Vaterland und Souveränität.

"Wussten Sie, dass ...?"

In Umfragen geben denn auch bis zu 90 Prozent der Befragten an, sie würden "Nein" ankreuzen. Dafür hat die Regierung mit einer bisher beispiellosen Propagandakampagne gesorgt. Landauf landab wird großflächig Angst vor den Fremden geschürt. Die Aufnahme von Flüchtlingen bedeute Terrorgefahr. "Wussten Sie, dass seit Beginn der Einwanderungskrise mehr als 300 Menschen in Europa durch Terroranschläge ums Leben kamen?" lautet eine der Fragen, mit denen Angst und Verunsicherung des Wahlvolks noch gesteigert werden sollen. Fünf weitere Fragen, die alle mit "Wussten Sie?" beginnen, warnen zum Teil mit reinen Spekulationen, zum Teil auch mit Falschinformationen vor weiterem Zustrom von Asylsuchenden. So wird behauptet, Brüssel wolle "illegale Einwanderer", die einer kompletten Stadtbevölkerung entsprächen, in Ungarn ansiedeln. Ungarns kleinste Stadtgemeinde Balatonföldvár zählt etwas über 2000 Einwohner. Nach dem Verteilungsschlüssel sollte Ungarn, das neun Millionen Einwohner zählt, gerade einmal 1296 anerkannte Asylwerber ansiedeln. Das entspricht nicht einmal 1,5 Prozent der Anzahl, die Österreich im Jahr 2015 aufgenommen hat. Auch die mehr als 300 Terroropfer sind eine Übertreibung. Zwischen November 2015 und Juli 2016 waren es 259. Selbst die Olympia-Berichterstattung wurde immer wieder durch die Einschaltungen der "Wussten Sie?"-Werbung unterbrochen. Die Bürgermeister aller Gemeinden müssen Foren einberufen, bei denen die Bevölkerung mit drastischen Szenarien von drohender Gesetzlosigkeit auf das Referendum eingestimmt werden sollen. Sogar einige Priester lassen sich in die fremdenfeindliche Kampagne einspannen. Die Regierungspresse schlachtet jeden kleinen Zwischenfall mit Flüchtlingen in Deutschland oder Österreich aus, um ihre Warnungen zu illustrieren. Zuletzt hat Orbán versucht, die Roma-Bevölkerung zur Abstimmung zu motivieren, indem er androhte, wenn Flüchtlinge versorgt werden müssten, könne man der eigenen Minderheit keine Sozialleistungen mehr zahlen. Gleichzeitig streute er das Gerücht, die wenigen sozialdemokratischen Bürgermeister würden hinter dem Rücken der Regierung Migranten ansiedeln wollen.

Aufruf zum Abstimmungsboykott

Gegen die Propagandawalze der nationalkonservativen Regierung ist die linke Opposition machtlos. Sie konnte sich aber nicht einmal auf eine klare Linie einigen. Regierungssprecher Zoltán Kovács wirft der sozialdemokratischen MSZP mit einiger Berechtigung vor, sie wisse selbst nicht, was sie wolle. Denn deren Spitzen haben sich widersprüchlich geäußert. Die grün-alternative LMP ist ratlos, zeigt Verständnis für die Angst vor den Flüchtlingen und gibt gar keine Empfehlung ab. Nur die kleine Liberale Partei, die heute kaum mehr ein Prozent der Wählerschaft repräsentiert, spricht sich für ein trotziges "Ja!" aus. Damit würde man Orbán aber auch auf den Leim gehen, wenden Kritiker ein. Denn das Ergebnis stehe ohnedies längst fest, entscheidend sei aber die Beteiligung. Am klarsten hat sich deswegen die Demokratische Koalition von Ex-Premier Ferenc Gyurcsány positioniert. Sie ruft zum Abstimmungsboykott auf. Denn eine Volksbefragung ist nur gültig, wenn mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten eine gültige Stimme abgeben. Alle Plebiszite, bis auf eines in der jüngeren Geschichte Ungarns, sind an dieser Hürde gescheitert. Es ist auch keine geringe Leistung, vier Millionen Wahlberechtigte zu den Urnen zu bringen, wenn es im Grunde um nichts geht. Gegenüber den letzten Parlamentswahlen müsste Orbán den Zuspruch für seine Partei verdoppeln.

Alle wissen, dass der Ausgang der Volksbefragung keinerlei Konsequenzen haben wird. Regierungssprecher Kovács gab zu, es würde auf die Flüchtlingspolitik der Regierung auch keine Auswirkungen haben, wenn nicht einmal 40 Prozent abstimmten. Das Referendum diene dazu, Orbán "das Regieren leichter zu machen". Ungarn steht auf dem Standpunkt, die EU habe kein Mandat, in die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Mitgliedsstaaten einzugreifen, und hat deswegen im vergangenen Dezember beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Klage gegen die Flüchtlingskontingente eingereicht. Für diese Abwehrhaltung erwartet man sich ein klares Mandat der Bevölkerung. Viktor Orbán lässt sich die Veranstaltung immerhin 15 Millionen Euro kosten. Mit mindestens weiteren zehn Millionen Euro schlage die Propaganda zu Buche, wie Regierungssprecher Kovács vorsichtig schätzt.

Seit anderthalb Jahren trommelt Orbán bereits gegen die "Wirtschaftsflüchtlinge", die "Gift für das Land" seien. Sollte all dieser Aufwand nicht die erforderliche Anzahl von Stimmbürgern zur Urne bringen, wäre das für den Premier und seine Anti-Flüchtlingslinie eine empfindliche Blamage. Ein Journalist in Budapest glaubt sogar, seine unangefochtene Stellung in der Regierungspartei Fidesz könnte wackeln.

Satirische Konterpropaganda

Die originellste Anwort auf die Angstkampagne der Regierung hat sich die Spaßpartei "Zweischwänziger Hund" einfallen lassen. Die Satiriker plakatierten - optisch den Regierungssujets nachempfunden - Fragen wie: "Wussten Sie, dass man in Ungarn eher ein UFO sichten kann als einen Migranten?" oder "Wussten Sie, dass mehr als eine Million Menschen aus Ungarn nach Europa flüchten will?" Damit wird auf die mehr als 500.000 Ungarn angespielt, die seit Orbáns Machtergreifung 2010 das Land verlassen haben. Oder: "Wussten Sie, dass die meisten Korruptionsverbrechen von Politikern begangen werden?" Mit der Frage "Wussten Sie, dass die Landnahme vor 1100 Jahren von Migranten begangen wurde?" erinnert man an den kriegerischen Ursprung der ungarischen Nation im Mittelalter. Bei der Regierungspartei Fidesz reagiert man ziemlich humorlos. In mehreren Gemeinden wurden solche Plakate auf Geheiß der Bürgermeister von Sozialhilfeempfängern heruntergerissen.

Der linke Philosoph Gáspar Miklos Tamás hat der Opposition in der unabhängigen Zeitung Nepszabadság einen Vorschlag gemacht: Statt sich von Brüssel eine Quote diktieren zu lassen, solle man dazu auffordern, 20.000 Flüchtlinge ins Land zu holen. Das sei das Minimum. Verkraften könne das Land eine viel höhere Zahl.

Ein alternativer Umgang mit Flüchtlingen und Migranten wird aber außerhalb kleiner intellektueller Zirkel gar nicht diskutiert. Für Viktor Orbán ist die Fluchtbewegung, die begann, als seine Popularität im Sinken war, ein echter Glücksfall. Als Verteidiger des christlichen Abendlandes ist er jetzt wieder unumstritten.

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