Der Grundwasserspiegel der Humanität

19451960198020002020

150 Euro monatlich zum Leben, dafür Tempo 140 auf der Autobahn; ein diskreditierter Geheimdienst, dafür Euromillionen für Polizeirösser; mehr Geld für Reiche, dafür weniger für Schlechtgestellte: Diagnose eines politischen Tiefstands. Ein Gastkommentar.

19451960198020002020

150 Euro monatlich zum Leben, dafür Tempo 140 auf der Autobahn; ein diskreditierter Geheimdienst, dafür Euromillionen für Polizeirösser; mehr Geld für Reiche, dafür weniger für Schlechtgestellte: Diagnose eines politischen Tiefstands. Ein Gastkommentar.

Werbung
Werbung
Werbung

Von uns sogenannten Intellektuellen wird häufig verlangt, wir sollten uns "politisch" äußern, sei doch alles Geistige immer auch politisch. Und so hört man uns gerne zu, wenn wir bei festrednerischen Anlässen über die sogenannten großen Themen reden: Aufklärung, Humanismus, Demokratie

Aber manches Mal stößt es mir sauer auf. Braucht uns eine übersättigte bürgerliche Kultur nicht bloß, um mit querdenkerischen Begriffen "provoziert" zu werden, weil sie sich dadurch unterhalten fühlt und zugleich tolerant empfinden darf? Aufklärung hin, Humanismus her, ich bin ein besorgter Demokrat, und zwar auf ziemlich handfeste Weise. Eine Reihe von Vorkommnissen der letzten Zeit hat dazu geführt, dass ich mich von unserer Regierung brüskiert, verlassen, abgestoßen fühle. Warum? Hier, zur Erinnerung, einige - wenig erhebende und schon gar nicht erhabene -Vorkommnisse.

"Nicht mein Präsident"?

Nachdem der Generalsekretär unserer rechtspopulistischen, in Teilen europafeindlichen FPÖ den Präsidenten der Europäischen Kommission bezichtigt hatte, sein Amt betrunken auszuüben, sah sich unser Bundespräsident genötigt, derlei Rhetorik zu rügen. Woraufhin dem Staatsoberhaupt beschieden wurde, er sei ein "frustrierter Grüner" und: "Ich fühle mich durch ihn nicht vertreten. Mein Präsident ist er nicht." Da ein demokratisch gewählter Bundespräsident gemäß der Verfassung den Souverän, also das ganze Volk, repräsentiert, sind die Aussagen des FPÖ-Generalsekretärs nicht einfach ungehörig. Als Abgeordneter zum Parlament und Mitglied der Regierungskoalition müsste er zurücktreten.

Wollte ich mich auf ein ähnliches Niveau begeben, könnte ich sagen, dass diese Regierung nicht meine Regierung ist, solange sie sich gegenüber den objektiven, weil ethisch gebotenen "Interessen" aller Österreicherinnen und Österreicher ignorant verhält, inklusive -bitte schön -meiner eigenen, und dies ganz unabhängig davon, ob ich eine der Koalitionsparteien gewählt habe. Ich werde aber nichts dergleichen sagen, sondern nur einige -zugegeben "geistig" wenig anspruchsvolle -Gründe nennen, warum mir scheint, dass diese Regierung ganz andere "Interessen" hat als diejenigen, die ich für menschlich geboten und gemeinwohlverpflichtend erachte.

Was die Pläne unseres Bundeskanzlers, ÖVP, und seiner kantigen Berater zur Konzentration von Flüchtlingen in riesigen Auffanglagern jenseits des Mittelmeeres betrifft, womöglich in diktatorisch regierten und bürgerkriegsgeplagten Ländern, so bleibt es hoffentlich beim populistischen Gerede (freilich, das mittlerweile rechtsextreme Italien macht, Menschenrechte hin oder her, schon ernst mit dem Zurückschicken Hilfesuchender vom offenen Meer aus). Und erst jüngst hat unsere Sozialministerin, FPÖ, allfällige Kürzungen im Bereich der Mindestsicherung damit gerechtfertigt, dass, wer eine Wohnung habe, mit 150 Euro monatlich in Österreich sein Auslangen finde. Diese, wie ein milder Kommentator meinte, "kopflose" Äußerung hätte man unter Inkompetenz verbuchen können, wäre sie nicht mit Blick auf Asylwerber und Migranten erfolgt. Sie sollen sich beim Überleben in Österreich tüchtig anstrengen -wie, ist eine andere Frage.

Umbau der Zweiten Republik

Dafür ritt im Sommerprogramm des ORF unser Verkehrsminister, FPÖ, sein Steckenpferd, Tempo 140 auf Autobahnen, indem er argumentierte, es entstehe dadurch keine Belastung, weder was die Schadstoffe noch den Lärm noch das Unfallrisiko betreffe.

Kurz, der Umbau der Zweiten Republik ist in vollem Gange: Ausweitung der möglichen Wochenstundenarbeitszeit ohne Gespräche mit den Sozialpartnern; Verschärfungen für Arbeitslose; bei Führerscheinprüfungen kein Türkisch für die Viertelmillion Türken, die hierorts leben, wohl aber Englisch. Das "Schächten" zur Gewinnung von rituell reinem Fleisch wird zum Sommerreizthema, obgleich unser Tierschutzgesetz, § 32, detailliert festlegt, wie der Vorgang schmerzfrei zu gestalten sei.

Unser Innenminister, FPÖ, möchte für Polizeirösser Euromillionen ausgeben, nachdem er unseren Geheimdienst diskreditiert hat, wobei der Verdacht besteht, dass bei Hausdurchsuchungen Aktenmaterial kassiert wurde, welches die rechtsradikale Szene betrifft. Ein Schelm, wer dabei an die "Freiheitlichen" denkt.

Auf der einen Seite erleben wir eine Renaissance der schlagenden Burschenschaften, die sich stets zur großdeutschen Idee bekannten, während auf der anderen Seite unser Bundeskanzler so ziemlich alle christlichen Grundsätze seiner christlich-sozialen Partei -von der Nächstenliebe bis zum fürsorgenden Gemeinwohl - auf Eis gelegt hat. Dafür verträgt er sich gut mit den Reichen und Superreichen, der Name "Didi" Mateschitz fiel mehrfach (geschätztes Vermögen: 12,5 Milliarden). Dagegen gäbe es nie und nimmer etwas einzuwenden, würde von dort aus eine Sozialstaatsmobilisierung in die Wege geleitet, statt alles, was Geldmacht hat in diesem Staat, nur ja nicht zur Kasse zu bitten.

Hingegen werden die Warnund Ordnungsrufe aus den liberalen Reihen der Caritas ignoriert, man versucht, die NGOs ganz allgemein zu kriminalisieren, und jene, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Schlecht-und Schlechtestgestellten zu helfen, müssen mit dem Vorwurf rechnen, das Sozialschmarotzertum im Lande zu begünstigen.

Und unsere eigenen Leute?

Sicher, es hätte vieles auch immer besser sein können, aber nicht auf eine Art, welche die Menschen in unserem Land immer mehr gegeneinander aufbringt. Bei aller Vorsicht gegenüber den Schalmeientönen aus dem Lager eines Scharia-freundlichen Islam, führt die jetzt praktizierte Religionspolitik dazu, dass sich kaum eine Muslimin oder ein Muslim in unserem Land wohlfühlen kann. Man stellt die Menschen "mit Migrationshintergrund" zwar nicht ausdrücklich unter Generalverdacht, lässt aber durchblicken, dass es keinem Patrioten zu verübeln sei, wenn er einen solchen Verdacht hege.

Und was "unsere eigenen Leute" betrifft -das sind nicht bloß jene, die grölen: "In einem christlichen Land, hängt ein Kreuz an der Wand" -, ist es wohl einzig eine Frage der Zeit, wie lange die astronomisch ungleiche Verteilung der Einkommen und Privatvermögen klaglos hingenommen wird.

Ein mir befreundeter Chefredakteur hat die schöngeistige, ja, festrednertaugliche Wendung gebraucht, es gälte, den "Grundwasserspiegel der Humanität" nicht weiter absinken zu lassen. Das ist auch meine Meinung, deshalb könnte ich daran zweifeln, ob diese Regierung noch meine ist. Ich tue es aber nicht. Vielmehr werde ich diese meine Regierung daran messen, ob sie den humanitären Grundwasserspiegel in Zukunft wieder anhebt oder immer weiter absenkt.

| Der Autor lehrt Philosophie an der Uni Graz. Zuletzt erschienen: "Land inmitten"(Ed. Faust 2018) |

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung