In Sachen seines Berufes ist jeder Mensch befangen, „betriebsblind“. Warum sollte es beim Politiker anders sein? Daher ist die Kritik an den Politikern als Menschen und an ihren Handlungen im Prinzip durchaus gerechtfertigt. Politische Kritik dient — auch wenn es manche Politiker nicht wahrhaben wollen — der Politik und auch den Politikern und schließlich vor allem dem Vaterland. Daher muß man in der Kritik an der Politik ein unabdingbares Korrektiv des politischen Lebens sehen. Im Vereinigten Königreich gibt es sogar so etwas wie „Ihrer Majestät Königliche Opposition“, eine öffentlich-rechtliehe Funktion der Kritik an der jeweiligen Regierung. Wer die Kritik an der Regierung und an den Politikern liquidieren möchte, bezeugt die Absicht, die Grundlagen der Demokratie aufzuweichen und sie auf eine Cäsaro-Demokratur zu reduzieren. Den Politikern wäre dann kaum ein Maß ihres Handelns vorgegeben. Die Politik hätte weitab jeden menschlichen Bezug verloren.
Wer also Kritik an der Politik übt, ist in seinem Handeln gerechtfertigt, vorausgesetzt, daß er selbst ein politisches Ordnungsbild vor Augen hat und nicht nur eigene Interessen mit seiner Kritik verfolgt, etwa derart, daß er sich nach seinen Interessen ein höchst privates Ordnungsgebilde konstruiert. Weiter muß der Kritiker Sachkenntnisse in einem Umfang besitzen, der es ihm möglich macht, die politische und insbesondere die ökonomische Wirklichkeit ausreichend zu erkennen und sachkundige Urteile zu fällen.
Da sich auch der Kritiker nicht jenseits von Gut und Böse wähnen darf, gelten die Maßstäbe, die er an die kritisierten Politiker anlegt, in gleichem Umfang auch für ihn. Das heißt aber nicht weniger, als daß auch der Kritiker gewichtige Elemente des Sittengesetzes wohl beachten muß, etwa:
„Du sollst (auch gegenüber einem Politiker) kein falsches Zeugnis abgeben.“ Denn auch der Politiker ist jener „Nächste“, von dem der Dekalog so eindringlich spricht.
Ebenso gilt „Du sollst nicht lügen“, präziser übersetzt: „Du sollst nicht in Unkenntnis der Tatsachen falsche Behauptungen aufstellen öder die Wirklichkeit vergröbert wiedergeben“. Nehmen wir das unselige GebietderSteuern. Nichts leichter als die jeweilige Steuerpolitik zu kritisieren. Das. geschieht, je höher der Steuer- . liehe Ertrag ist. Was nun in Sachen Steuer an Kritik geboten wird, hat wenig mit Sachlichkeit zu tun und ist meist ein Anruf an die niedrigsten Einkommensinstinkte. Wo eine Kritik an der steuerlichen Gesetzgebung geboten wäre (so in den steuertabellarischen Ungerechtigkeiten gegenüber den Familien), wird sie meist unterlassen. Man müßte dann sachlich sein und könnte nicht jene billigen Effekte erzielen, deren man sich bei einer hemmungslosen Kritik so gut wie sicher ist.
Die politisch'* Kritik hat ihre Grenzen:
1. Ist das der Fall, wenn politische Kritik Ausdruck bloßer Hysterie oder verdeckter Gewinnsucht ist. Die Anrufung des „lieben Vaterlandes“ ist dann der meist gelungene Versuch, von der eigentlichen Absicht abzulenken.
Wird das Maß an Objektivität überschritten, fehlt der Kritik die Rechtfertigung. Es wäre eines Versuches wert, etwa die Schlagzeilen bestimmter Boulevardblätter unseres Landes von einem Monat nebeneinanderzustellen. Es ergäbe sich dann, daß für manche Blätter die Kritik keineswegs des öffentlichen Wohles wegen geübt wird, sondern einfach deswegen, um mit den Primitivinstinkten einer unwissenden Leserschaft ein brillantes Geschäft zu machen und das politische Leben so darzustellen, wie es sich die Leser eben vorstellen, das heißt im Stil der Comic-books. Das gleiche gilt für einige Komiker, deren ganzer Witz aus der monotonen Wiedergabe der gleichen politischen Thematik besteht, die in Benutzung reichlich gewährter Narrenfreiheit interpretiert wird. Dabei kann — wie bei den erotischen Pikanterien — mit dem dankbaren und honorarbringenden Gelächter eines vergeßlichen Publikums gerechnet werden. Dazu kommt noch, daß manche Politiker humorlos sind und es einfach nicht zustandebringen, Kontra zu geben. Die Massen der Rundfunkhörer und der Zeitungsleser erhalten jedenfalls die Tatsachen des politischen Lebens zum Teil in Form von Witzkonserven und Sensations-ar'tike'n dargestellt. Bei manchen Artikelschreibern muß man überdies vermuten, daß sie zuerst den zügigen Titel produzieren, auf dessen Produktion sie ihre meiste Arbeit verlegen. Nachher wird dann in Kürze der zum attraktiven (und zum Kauf des Blattes anregende) Titel passende Text aus Dichtung und Wahrheit kombiniert.
2. Wer in seiner Kritik grundsätzlich davon ausgeht, daß nur der Nichtpolitiker rechthaben kann, begeht zumindest einen logischen Fehlschluß. Der Politiker operiert auf der offenen Bühne. Was er sagt und tut, wird meist publik. Gar nicht zu reden von den Ausführungen jener Politiker, die ihre Verbindungen zu Nachrichtenagenturen benützen, um jede ihrer Aeuße-rungen, und sei es auch nur ein Nefccnsatz, den Lesern der Montagszeitungen bekann.2.umach/n, worauf sie dann zuweilen bis zum nächsten Sonntag damit zu tun haben, das am Sonntag Gesagte zu dementieren und feststellen zu lassen, was sie eigentlich nicht gesagt haben. Wurde man das, was so manche betonte Nicht-politiker an Aeußerungen von sich geben, mit der gleichen vehementen Kritik analysieren, wie man dies bei Reden von Politikern tut, so wäre der Mythos so mancher Unfehlbarer unter den Kritikern, die jedes Ereignis im politischen Raum mit einem unvorstellbaren Hochmut kommentieren, dahin.
3. Schließlich sind jene Kritiker kaum ernst zu nehmen und funktionslos, die rundweg alles und nur kritisieren. Es ist schon wieder ein österreichisches Gesellschaftsspiel geworden, in einer pathologisch anmutenden Besessenheit alle negativen Nachrichten zu sammeln und, das so gesammelte Bukett an üblen Notizen vorweisend, zu sagen. „Seht, das ist Oesterreich“.
Was soll man etwa zu jener an sich seriösen WirtscHaftszeitung sagen, die Woche für Woche alles, was in politicis geschieht, in, ihrem Leitartikel verhöhnt, sich aber gleichzeitig von jenen Institutionen, die sie glossiert hat, fette Inseratenaufträge geben läßt? Oder soll der Leitartikel eine besondere Form der Inseratenwerbung sein? Wenn man einen Teil der österreichischen Presse verfolgt, muß man zuweilen fragen (und einem nach Oesterreich gekommenen Ausländer muß sich diese Frage unwillkürlich aufdrängen): Ist denn in den letzten elf Jahren in unserem Vaterland so gar nichts geschehen, was einer positiven Wertung bedürfte? Angesichts einer maßlos gewordenen Kritik, die jetzt große Mode und eine Form des Denkersatzes in politischen Dingen geworden zu sein scheint, muß man feststellen, daß das, was in unserem Land nach 1945 an wahrhaft Großem geschehen ist, das Werk von Politikern und“ von Nichtpolitikern war. Die paar Geschäftemacher, die es unter den Politikern gegeben hat, können doch kaum die große Zahl jener Männer in den gesetzgebenden Körperschaften auf-. wiegen, die ihrem Vaterland in den letzten Jahren ehrlich und unter großen persönlichen, Opfern gedient haben. Das gilt für die Politiker der Regierungsparteien und in einem bestimmten Umfang auch für die Männer der Opposition.
4. Nicht selten ist es so, daß die Kritik sich, direkt gegen die Interessen des Vaterlahdes richtet und dann den Charakter von Ho ch-verrat hat. Das gilt ganz besonders für einige Journalisten, die der ausländischen Presse gegen Devisen „Oesterreichberichte“ liefern. In die gleiche Kerbe Wie diese Journalisten schlagen viele Auslandfahrer, die nach der Grenze mit der Währung auch die nationale Bindung wechseln und sich jetzt einem staunenden Ausland mit Verunglimpfungen ihres Vaterlandes anbiedern wollen, in der Meinung, man habe jemals Verräter höher geschätzt als die, welche sie verraten.
Während die österreichischen Sozialisten in einem erstaunlichen Umfang zu einer Staatsbejahung gefunden haben, sind die österreichischen Christen in einem weiten Maße an den Zäunen der Politik stehen geblieben. Das gilt zuvorderst für die christliche Intelligenz. Dagegen kann man freilich sagen, daß den christlichen Intellektuellen oft der Zutritt zur Politik verweigert wird und daß zuweilen die Kandidatenlisten für Nationalrats- und Landtagswahlen den Charakter einer „Verschwörung gegen die Intelligenz“ haben, wie seinerzeit schon Josef Eberle festgestellt hatte. Nicht selten wird aber Ursache und Wirkung verwechselt. Es gibt nicht wenige Christen, die in einem unverzeihlichen christlichen Hochmut der Meinung sind, man müsse es als ein „gottgefälliges“ Werk ansehen, wenn sie alles Politische vorweg und ohne Prüfung der Tatsachen verdammen. Das, was sie dann mit „Reich-Gottes-Ärbeit“ bezeichnen, scheint ihnen oft nur im Gegensatz zur Politik möglich zu sein. Von den i großen politischen Ereignissen wird kaum Notiz genommen, sind sie doch vom Bösen. Und mit großem Erstaunen wird da bemerkt, daß -man jetzt — 1956 — keinen russischen Soldaten mehr auf der Straße sieht. Man lebt so sein Eigenleben und sieht in der Politik, wenn sie schon in das Blickfeld kommt, nicht mehr als ein notwendiges Uebel. Keineswegs aber wird bedacht, daß der Politiker es gewesen ist (eher wohl als der betonte Nichtpolitiker), der es auch dem apolitischen Christen ermöglicht hat. daß er ein Leben ohne Politik und darüber hinaus ein Leben als Christ führen darf.
Ich gebe zu: Manche Politiker provozieren Kritik. Und verdienen sie dann in reichem Maß, wobei sie wieder mit einer Ueberempfindlichkeit reagieren, die besser etwa bei Abfassung ihrer Reden auf dem Platz gewesen wäre. Die Inferioren kommen gleich mit der massiven Drohung, so als ob diese allein schon ein Gegenargument und eine Demonstration politischer Weisheit wäre. Nicht wenig Anlaß zur Kritik geben auch jene (wenigen) Politiker, die. obwohl keine Herrenreiter laut Stammbaum, trotzdem bemüht sind, gegenüber den „gemeinen“ Wählern auf dem hohen Roß zu sitzen. Sie lassen sich dann in allen möglichen Posen konterfeien und kommen ihren Damen gegenüber in die Position von Prinzgemahlen. Bei vielen Gelegenheiten bringen sie dann das besagte hohe Roß nicht in Bewegung (weil sie es mit einem Schaukelpferd verwechselt haben) und müssen es sich hierauf gefallen lassen, daß sie unter dem Hohngelächter einer vordem ehrfürchtig staunenden Menge ohne Benützung eines Steigbügels vom Roß herunter müssen. Aber sind diese so gekennzeichneten Politiker, die es überall und in jeder politischen Farbe geben wird, repräsentant für die Politiker?
Für die Kritik in Sachen der Politik sollte gelten:
Auch der Politiker hat eine Ehre! Der Christ dürfte nicht, in blinder Gläubigkeit an die Obrigkeit, wie hypnotisiert alles, was von der Politik her kommt, als gut akzeptieren. Ebensowenig aber dürfte er Kritik um der Kritik willen üben, und dies, ganz gleich, welche Farbe die jeweiligen Politiker haben. Schon gar nicht darf der Christ glauben, Kritik sei darin grundgelegt, nur das Schlechte als das Allein-Wirk-liche zu sehen.
Was uns — und in diesen Wochen wieder ganz besonders — aufgegeben ist, das ist: Die Wahrheit auch im Raum der Politik zu suchen. Darin liegt eine Chance, aber zugleich auch eine oft bitter empfundene Begrenzving unseres Handelns.
Der Staat ist ein Teil der Heilsordnung. Und der Politiker ein wesentliches Vollzugsorgan dieser Heilsordnung. Wenn wir die Politiker und die Politik kritisieren, dann nur um eine nach unserem Dafürhalten gestörte Heilsordnung wiederherstellen zu helfen. Wenn wir in unserer Kritik mehr tun, fehlt uns die moralische Rechtfertigung.