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Prag und seine Zigeuner

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Als gemeinsam mit der Föderalisie-rung der Tschechoslowakei ein neues, relativ modernes Nationalitätengesetz Wirklichkeit wurde, in dem bekanntlich auch erstmals weder die Deutschen erwähnt sind, zeigten alle Minderheitengruppen der Tschechoslowakei, die Ungarn und Deutschen, die Polen und Ukrainer, Zufriedenheit — nur eine Gruppe fühlte sich weiterhin vernachlässigt: die Zigeuner, die mit keinem Wort erwähnt worden waren.

Auch das neue Prager Regime hat seine Argumente: diese Nichterwähnung der Zigeuner als Minderheit sei Ausfluß einer Grundsatzentscheidung. Seit Jahren hat man sich bemüht, die Zigeuner seßhaft zu machen, sie organisch zu assimilieren und zu integrieren. Daß das nicht geglückt sei, könne den Behörden nicht angelastet werden. Die Zigeuner gaben sich damit nicht zufrieden; ähnlich wie die anderen Minderheiten dies längst und die Deutschen es seit jüngster Zeit taten, wollten auch die Zigeuner der Tschechoslowakei ihre eigene Organisation schaffen, wovon .sie auch die inzwischen gewandelte politische Situation nicht abzubringen vermochte. Im April 1969 trafen sich in Prag Zigeunerdelegierte, vor allem Vertreter einer zaghaft entstehenden Zigeunerintelligenz, zur Gründung eines „Vorbereitungsausschusses des Bundes der Zigeuner“ oder, wie sie ihn in ihrer Muttersprache bezeichneten, der „Romi“.

Der stärkste Verbündete der Zigeuner

Vor dem zweiten Weltkrieg gab es in Europa unterschiedlichste Zahlenangaben über die Zigeuner; sie schwankten zwischen 2 und 5 Millionen, wovon allein 1,5 Millionen auf Südosteuropa entfielen. Damals soll es — Zahlenangaben sind damals wie heute mit Vorsicht aufzunehmen — in Rumänien 300.000 Zigeuner gegeben haben, in Ungarn 280.000, in der Tschechoslowakei rund 60.000.

Die Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die Zigeuner waren ebenso grausam wie gegen die Juden. Am 8. Dezember 1938 wurde ein „Zigeunererlaß“ verfügt und ein Zigeunergesetz vorbereitet. „Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung, insbesondere soweit sie gegen Zigeuner, Arbeitsscheue und sogenannte Asoziale gerichtet war, emanzipierte sich weitgehend von jeder richterlichen Kontrolle und praktizierte einen mit den Menschenrechten unvereinbaren Verfügungsanspruch über die Betroffenen“ charakterisierte Hans Buchheim, die Stellung der Zigeuner in dem Band „Anatomie des SS-Staates“. Am 27. April 1940 folgte dann die Anordnung Himmlers zur Zigeunerumsiedlung. Im Rahmen des durch den Krieg ausgelösten Ausnahmezustandes wollte man rascher als ursprünglich geplant eine totalitäre Umgestaltung der Gesellschaft durchführen. Wie bei den Juden war die Umsiedlung ins Generalgouvernement nur eine Etappe in den Tod. Unmittelbar nach Kriegsende soll die Zahl der Zigeuner auf dem Gebiet der Tschechoslowakei eintausend betragen haben, 1947 aber: wieder 18.000, wann immer aber später Zahlenangaben über Zigeuner gemacht wurden, waren sie bei ihrer Veröffentlichung schon überholt — teils durch Vermehrung — sehr zum Unterschied übrigens zur Bevölkerungsentwicklung bei Tschechen und Slowaken —, teils durch Zuwanderung. Zehn Jahre später gab es bereits 150.000 Zigeuner, weitere zehn Jahre nachher, im Jahre 1968, wurden 226.467 Zigeuner auf dem Gebiet der Tschechoslowakei gezählt. Das war also nach den Ungarn die zweitstärkste Minderheit. Längst hatte die Zahl der Zigeuner die der verbliebenen Deutschen überrundet. Der Anteil der Zigeuner machte so-

mit 1968 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung aus; in den böhmischen Ländern allerdings 0,62, in der Slowakei aber immerhin 3,6 Prozent!

Alle Ostblockländer überrundet

Damit hat die Zahl der Zigeuner etwa das Vierfache der Zahl von 1938 erreicht, obwohl damals noch die Karpatenukraine zur Tschechoslowakei gehörte, die, ähnlich wie die Ostslowakei, ein Hauptsiedlungs-gebiet der Zigeuner war. Merkwürdiger aber noch als diese interessante und bemerkenswerte Tatsache ist die, daß innerhalb des Ostblocks — sehr zum Unterschied zur Zeit vor 30 Jahren! — die meisten Zigeuner nicht in Rumänien oder Ungarn, sondern in der Tschechoslowakei leben.

Nach den vorliegenden statistischen Angaben, die sicher nicht ganz verläßlich sind, leben gegenwärtig 20.000 bis 30.000 Zigeuner in Polen, 70.000 bis 90.000 in Jugoslawien, 100.000 bis 110.000 in Rumänien, 160.000 in der Sowjetunion (1939 waren es 61.000, 1959 132.000), je 200.000 in Ungarn und in Bulgarien und 220.000 bis 230.000 in der Tschechoslowakei. Die Verschiebung gegenüber der Vorkriegszeit ist vor allem deshalb so bemerkenswert, weil ja auch die Grenzen innerhalb des Ostblocks relativ dicht sind und ein beliebiges Überschreiten der Grenzen nicht leicht möglich ist. Innerhalb des Ostblocks ist übrigens die Behandlung der Zigeuner stark unterschiedlich. In der Sowjetunion werden die Zigeuner als ethnische Minderheit anerkannt, Seßhaft-machungsbestrebungen sollen hier ebenso zu Erfolgen geführt haben wie in Bulgarien. In Polen, Rumänien und Ungarn hat man in das Leben der Zigeuner nicht allzustark eingegriffen und vor allem versucht, sie in eigenen Zigeunergenossenschaften zusammenzuschließen. Ungarn löste allerdings 1962 den zentralen Zigeunerverband auf und nahm den Zigeunern ihre Minderheitenrechte. In der Tschechoslowakei wollte man von Anbeginn an eine Assimilierung durchsetzen — mit Zuckerbrot und Peitsche.

Die mißglückte „Endlösung“

Zehn Jahre nach der kommunistischen Machtübernahme folgte am

18. April 1958 ein Beschluß des ZK der KPTsch über eine „marxistischleninistische Endlösung des Zigeunerproblems“, wobei „Endlösung“ nicht im nationalsozialistischen Sinne, als eine Auslöschung der Zigeuner, sondern als Assimilierung mit Slowaken und Tschechen gemeint war.

Im selben Jahr 1958 folgte dann auch das „Gesetz über die dauernde An-siedlung nomadisierender Personen“, und Regierungsausschüsse befaßten sich periodisch — und meist sorgenvoll und pessimistisch — mit den Fortschritten dieser „Endlösung“, die heute fast so fern ist wie damals 1958“; vor elf Jahren.

Ost—West, West—Ost

Ähnlich wie schon in früheren Jahrzehnten ist die heutige Verteilung der Zigeuner in der Tschechoslowakei stark unterschiedlich; von den 226.467 Zigeunern (1968) leben 165.382 in der Slowakei und nur 61.085 in Böhmen-Mähren. Das war unmittelbar nach Kriegsende wesentlich anders. 1948 lebten Dreiviertel der rund 18.000, nämlich 12.366, in den leergewordenan böhmischen Randgebieten, wurden aber hier unter den relativ günstigen Bedingungen nicht seßhaft. 1958 lebten dann von den 150.000 Zigeunern wieder 120.000 in der Slowakei. Die Ziele, die die Tschechoslowakei im Zusammenhang mit der „Endlösung der Zigeunerfrage“ erreichen wollte, waren: Ein völliger Einbau in den Arbeitsprozeß, was vor allem in den ersten 15 Jahren, nach der Ausweisung der Deutschen und bei dem akuten Arbeitskräftemangel, stark im Vordergrund stand. Damit im Zusammenhang die Wohnraumbeschaffung, der Schulbesuch der Zigeunerkinder und schließlich hygienische Maßnahmen.

Um eine Assimilierung zu erleichtern, wollte man allerdings auch die bisherige Massierimg der Zigeuner vor allem in der Slowakei, hier wieder in erster Linie in der Ost-slowaked und da besonders in einer Reihe von Gemeinden, verhindern. Nicht weniger als 1183 Siedlungen wurden hier als „Zigeunerdörfer“ registriert, und in 60 ostslowakischen Gemeinden besteht eine Mehrheit der Zigeuner. Weder Prag noch jetzt die Preßburger Staatsregierung ist an solchen „Zigeunerreservaten“ interessiert — und das aus mehreren Gründen.

Neue Umsiedlungsäktionen aus der Slowakei in die böhmischen Randgebiete, die jährlich mit beachtlichen Mitteln versucht werden, haben aber nur sehr bescheidenen Erfolg. Der Zusammenhalt des Zieeunerclans, der Familien und Großfamilien mit

einer Reihe positiver Wirkungen, zeigt hier seine deutlichsten Schattenseiten. Entweder holen nach Böhmen übersiedelte Zigeunerfamilien bald ihre ganze Großfamilie nach und machen jede planvolle Maßnahme zunichte, verhindern aber vor allem das, was man erreichen wollte, eine Teilung der Clans

in kleinere Gruppen und deren schrittweise Assimilierung. Meist ist es gerade umgekehrt, daß übersiedelte Zigeuner in die Slowakei zurückkehren. 1967 kamen — mit erheblichen staatlichen Zubußen — 3168 Zigeuner nach Böhmen, aber 1043 Zigeuner kehrten aus den böhmisch-mährischen Gebieten wieder in die Slowakei zurück, so daß der erwünschte „Wanderungsverlust“ der Slowakei nur 2125 betrug, während gleichzeitig der Geburtenzuwachs an Zigeunerkindern in der Slowakei rund 20.000 betrug. 1968 übersiedelten 2258 Zigeuner aus der Slowakei in die westliche Landeshälfte, gleichzeitig gab es aber 1199 Rücksiedler, so daß der eigentliche Transfer nur 1059 Köpfe betraf. Eine Großaktion, für die 88 Millionen KSs aufgewendet werden, sieht vor, daß bis 1970 2000 Zigeunerfamilien mit 13.000 Köpfen aus der Slowakei in die böhmischmährischen Gebiete verpflanzt werden.

Die Beschäftigungszahl steigt Die heutigen Zahlen über den Arbeitseinsatz der Zigeuner sind wesentlich günstiger als vor zehn Jahren. 1958 standen von rund 70.000 arbeitsfähigen Zigeunern nur 9200 im regelmäßigen Arbeitseinsatz,

1962 waren es immerhin schon 17.000. 1967 schließlich standen von damals rund 215.000 Zigeunern 101.000 im „produktiven Alter“, und von diesen war es wiedei die Hälfte, die tatsächlich relativ regelmäßig arbeitete, nämlich 56.000. Weniger günstig waren die entsprechenden Zahlen über den Arbeitseinsatz bei

den Zigeunermädchen und Zigeunerfrauen; während die tschechischen Frauen zu rund 70 Prozent berufstätig sind, macht der Anteil bei Zigeunerfrauen nur 10 Prozent aus, wobei allerdings auch die starke Geburtenfreudigkeit berücksichtigt werden muß, vor allem die Tatsache, daß es keine Seltenheit ist, daß eine 40jährige Zigeunerfrau 10 bis 20 Kinder hat.

Viele Kinder — aber geringer Schulbesuch

Mit einer Geburtenfreudigkeit von 3.2 überrunden die Zigeuner Tschechen, und Slowaken haushoch, bei denen der Anteil der Lebendgebore-r nen noch unter der Hälfte dieser Zahl (1.5 Prozent) liegt. Di Zahl der Mitglieder einer Zigeunerfamilie liegt bei 5,8. im Durchschnitt hat also eine Familie vier Kinder, wobei allerdings die Zahl der unehelichen Kinder außerordentlich hoch ist. Hier, bei der Geburtenfreudigkeit, liegt also keineswegs die Sorge der zuständieen Behörden, vielmehr beim Schulbesuch dieser Kinder. Gewiß sind nicht mehr 80 Prozent aller tschechoslowakischen Zigeuner Analphabeten, wie dies vor zehn Jahren der Fall war; der mangelhafte Schulbesuch der Kinder bleibt aber weiterhin die Hauptsorge, auch nachdem man in den tschechischen Gebieten das Experiment der Sonderschulen für Zigeunerkinder einführte, vor allem, weil die Zigeunerkinder nicht Tschechisch können. Gegenwärtig besuchen in den tschechischen Gebieten 20 Prozent der Zigeunerkinder diese Sonderschulen, die anderen die normalen Schulen — oder gar keine.

Nicht mehr „manipuliertes Objekt“

Geschickt hat bei der Gründung des Vorbereitungsausschusses der

„Romi“ Ingenieur Holonek, ein maßgeblicher Vertreter der Zigeuner, darauf verwiesen, daß nach der Diskriminierung der Zigeuner unter den Nationalsozialisten und dem offenen Völkermord erstmals die Kommunisten den Zigeunern die Chance gegeben haben, als gleichberechtigte Menschen zu leben. Holonek — und nach ihm zahlreiche Diskussionsredner — vertraten aber auch die Meinung, daß alle gewünschten Maßnahmen nur unter aktiver Mitarbeit der Zigeuner selbst Chartce auf einen Erfolg hätten; statt die Zigeuner als mani-pulierbares Objekt anzusehen, sollte man ihnen die Möglichkeit geben, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden. Diese Zigeunerautonomie, etwa nach einer Anerkennung als ethnische Minderheit könnte wohl bei der Schulpflicht und beim Arbeitseinsatz manche Erfolge erzielen — in der Frage einer besseren Aufteilung und einer Assimilierung wären die Zigeuner vermutlich anderer Meinung als die Regierungen von Preßburg und Prag.

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