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Eine magyarische Zigeuner-Kavalkade

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Der Bogen ist der Hand eines weltberühmten ungarischen Zigeunerprimas, des Jözsef Suhaj-Balog, entfallen. Nach altem Brauch haben 200 Zigeuner musizierend seinen Sarg bis zum Grab begleitet.

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Der Bogen ist der Hand eines weltberühmten ungarischen Zigeunerprimas, des Jözsef Suhaj-Balog, entfallen. Nach altem Brauch haben 200 Zigeuner musizierend seinen Sarg bis zum Grab begleitet.

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Suhaj-Balog war ein Wunderkind, mit fünf Jahren bereits Virtuose im Städtchen Mezökövsd, wo er das Geigenspiel von seinem Onkel erlernt hatte. Als der zehnjährige Knabe mit seinem Vater, einem ebenfalls international bekannten Zimbalschläger, in der Tatra gastierte, wurde Kufoelik auf ihn aufmerksam. Später war er Schüler des ungarischen Komponisten und Violinvirtuosen Jenö Hubay in Budapest. Ganz jung ist er dann erster Primas in Debrecen geworden, wo er in der Folge 20 Jahre lang musizierte.

Im Jahr 1956 stellte Suhaj-Balog mit seinen Brüdern eine Kapelle zusammen und ging auf dreimonatige Tournee nach China. Die Kapelle trug neben volkstümlicher Musik auch Werke von Bar'tök, Kodäly, Liszt und Weiner vor. Die begeisterten Chinesen nahmen die Zigeuner nicht nur einmal auf ihre Schultern.

In Basel nahm Yehudi Menuhin dem Primas die Geige aus der Hand, um sie genauer anzusehen. Kompositionen Suhaj-Balogs wurden in Frankfurt verlegt. Er musizierte in Hamburg, Köln und anderen deutschen Großstädten. In der Heimat lehrte er den Nachwuchs die Technik seiner virtuosen Kadenzen und Variationen, die damit zu einer lebendigen, fortwirkenden Tradition geworden sind.

Anläßlich der „Budapester Festwochen 1974“ gibt es auf der Budapester Donauinsel einen Primas-Wettbewerb. Als „Hausdame“ fungiert dabei die Primaballerina der Budapester Staatsoper, die Zigeunerin Gabriella Lakatos. Am Ende des Festprogramms spielen mehr als 50 Zigeunermusiker den Räköczi-Marsch — natürlich „zigeunerisch“, nämlich ohne Noten. Der Wettbewerb findet vom 11. bis zum 19. August statt. Jeder Primas hat sieben Minuten Zeit für sein Spiel. Auch eigene Kompositionen dürfen neben alten und neuen Werken vorgetragen werden. Einfallsreichtum, Virtuosität, Improvisation werden bei solchen Anlässen besonders hoch bewertet. Am Ende wird dann die Geige des berühmten Pista Dankö, die im Museum zu Szeged ausgestellt ist, symbolisch dem Sieger überreicht.

Franz Liszt hat in einer seiner französischen Schriften den Typus des ungarischen Zigeunergeigers dargestellt. Franz Lehär, Imre Kälmän, Szabolcs Fenyes machten daraus einen Operettenhelden, ohne den sich ein „ungarischer Herr“ angeblich nicht amüsieren kann. Jenö Kenesei hat dann den Zigeuner auch auf die Opernbühne gebracht und machte aus ihm in seinem Ballett „Das Lied von Bihari“ einen Nationalhelden. Die legendären Primasse Jäncsi Rigö, Pista Dankö und andere sind zu Filmhelden geworden.

Von hunderttausend armen Zigeunern ist es jedoch immer nur einigen Auserwählten gelungen, internationale Karriere zu machen, obwohl es in Ungarn zu jeder Zeit unzählige außerordentlich gute Zigeunermusiker gab. In den Volksstücken des ungarischen Autors Ede Szigligeti erscheint der Zigeuner bereits als gesellschaftliche Randfigur, die in einem Ghetto am Dorfrand vegetiert und ihr karges Brot als Schmied verdient.

Der Versuch, die Wanderzigeuner seßhaft und zu Werktätigen in den Staatsbetrieben zu machen, scheiterte in allen osteuropäischen Ländern. Eine Art von Zigeuneraristokratie — die Musiker und ihre zahlreichen Kinder — lebt jedoch ständig in der ungarischen Hauptstadt und hat sogar ein eigenes Gymnasium und eine Musikhochschule, wohl die einzigen dieser Art auf der ganzen Welt.

Im Budapester Operettentheater läuft seit Monaten mit ungewöhnlichem Erfolg ein „Zigeuner-musical“ unter dem Titel „Rote Karawane“. Ganz abgesehen von den musikalischen und tänzerischen Darbietungen ist diese Produktion durchaus bemerkenswert. Ihr Autor ist der junge Schriftsteller und Opernregisseur Geza Csermely, ein Zigeuner aus Szeged. Das Stück spielt Anfang der fünfziger Jahre in „Cigänybecs“, einem menschlichen Ameisenhaufen irgendwo an einem ungarischen Stadtrand. Der Inhalt ist erstaunlich ernst und selbstkritisch. Es kommen Zigeunerschmarotzer, aber auch „Verräter“ und Söldner des sozialistischen Regimes vor, die als Polizisten das verrückte, undisziplinierte Volk zur Räson bringen wollen. Auch die Romantik kommt natürlich nicht zu kurz. Aber auch im „modernen Sozialismus“ werden die Zigeuner an den Pranger gestellt. Im Dorfwirtshaus müssen sie aus Gläsern trinken, die mit einem roten Punkt gekennzeichnet sind und diese Gläser werden separat abgewaschen. Zuviel Diffamierung für empfindliche Zigeunerseelen, ihre Bitterkeit sprengt sogar die Grenzen einer Operette.

Ein schönes Mädchen wird einem Hochstapler verkauft. Auf dem nahen Bahnhof bricht eine Massenschlägerei aus. Die solideren Zigeuner träumen von einer Karriere in der Stadt, etwa von einer Stelle als Straßenbahnschaffner. Einem untreuen Mädchen werden die Haare geschoren, jemand wird erschossen ... Auch der Polizist fällt einem Schuß aus dem Hinterhalt zum Opfer, aber der Mörder wird nicht ausgeliefert, wie das „Zigeneuerge-setz“, das uralt ist, es verlängt.

Die Operette „Rote Karawane“ ist ein seltsames Drama, eine Mischung aus Humor und Nostalgie, belebt von bunten Visionen und begleitet von einer mehr als nur originellen Musik.

Der Komponist Bela Szokcsi-Lakatos stammt aus einer Zigeunerfamilie in Transdanubien und wanderte jung nach New York aus, wo er Klaviervirtuose und ein Meister der Jazzimprovisation wurde. Er betätigte sich als Sammler alter Zigeuner- und Volkslieder, aber er hat davon keine einzige Melodie übernommen. Nur charakteristische Details verwendet er in seinen Kompositionen. Seine Harmonien und seine Instrumentierung sind modern, wenn auch durchwoben mit breit strömenden Melodien. Keine Spur mehr vom Weltmarkenartikel „ungarischer Zigeunermusik“. In seinem vierzigköpfigen Operettenorchester finden sich alle modernen Musikinstrumente, obzwar die Geiger dominieren. Szokcsi-Lakatos hat eine neue, wenig bekannte Schichte der Zigeunermusik mit orientalischem Nebenklang entdeckt und auf die Operettenbühne gezaubert.

Viele Kritiker prophezeiten eine Weltkarriere der „Roten Karawane“, die von manchen als ungarisches Pendant zu „Anatevka“ gepriesen wird. Einem Volk, das alle Verfolgungen mit Humor, Erfindungsgeist und Musikliebe überlebt hat, verspricht das Werk eine schönere Zukunft, wenn auch vorläufig nur in der Form schöner, träumerischer Visionen.

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