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Musik aus Ungarn

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Zwei Dinge sind es, die uns beim Anhören ungarischer Musik und ungarischen Musizierens immer wieder auffallen und die eine gemeinsame Wurzel haben: die Selbstverständlichkeit und Kraft, mit der sich die ungarische Musik der westeuropäischen Formen und Ausdrucksmittel bemächtigte, andererseits die Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit der ungarisdien Musik, die sich im Wechsel der Zeit und der Kunstströmungen ungebrochen erhalten hat. Dies ist um so erstaunlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, eine wie kleine Insel Ungarn zwischen dem gewaltigen slawischen Osten und dem in allen lockenden Farben spielenden westlichen Kulturkreis ist.

Der ursprünglichen ungarischen Volksmusik liegt die Pentatonik der älteren ostasiatischen Musik zugrunde. Erst unter dem Einfluß gregorianischer Gesänge, die von deutschen Missionaren ins Land gebracht wurden, erweiterte sich die fünfstufige Tonleiter zur siebenstufigen der Kirchentonarten. Gleichzeitig mit einer angeblich hochentwickelten Kunstmusik an den Höfen des 15. und 16. Jahrhunderts entstanden die in Handschriften überlieferten historischen Gesänge. Die Hoftänze dieser Zeit aber zeigen zum erstenmal in Melodie und Rhythmus die für die ungarische Musik so typischen Merkmale: die punktierte Synkope, die melodische Schlußwendung des Sekundschrittes mit der kurzen Note auf dem schweren Taktteil sowie häufigen Taktwechsel. Die sogenannte „ungarische Tonleiter“, auch Zigeunertonleiter genannt (eine Mollskala mit Leitton zur Quint) taucht erst im 19. Jahrhundert auf.

Zigeunermusik und ungarische Musik sind durchaus nicht identisch. Die ursprüngliche und unverfälschte ungarische Musik sehen wir heute in den „Bauernliedern“, von denen über 10.000 (mit ungefähr 2600 Variantengruppen) aufgezeichnet wurden — ein ungeheurer, kaum faßlicher Reichtum! ihnen stehen nur etwa 1500 „volkstümliche Kunstlieder“ gegenüber, von denen ein großer Teil gesunkenes Kulturgut ist und am ehesten mit unseren Schlagern verglichen werden kann. Bela Bartök, der eifrige Sammler und gründliche Kenner der ungarischen Volksmusik, hat darauf hingewiesen, daß die von der arabischen und tartarischen Musik beeinflußten Zigeunerweisen überhaupt keinen geschlossenen Eigenstil besitzen und schon als reine Instrumentalmusik mit der echten ungarischen Musik, dem Bauernlied, kaum mehr etwas gemein haben. (Echte Zigeunermusik, Lieder in der Zigeunersprache, werden von Zigeunern niemals öffentlich gespielt!) Das Bauernlied, die ursprünglich-echte Form der ungarischen Musik, wurde erst von den modernen ungarischen Komponisten erschlossen, allen voran Bart6k und Kodaly, die sich auch als Sammler verdient gemacht haben.

Wir hörten Proben von Bearbeitungen und Neuschöpfungen im national-ungarischen Stil durch den Studentenchor der Universität Szeged, der im ersten Teil seines Konzertes auch alte Motetten von Arcadelt, Palestrina und Händel (letzteren in ungarischer Sprache!) sowie Madrigale von Orlando di Lasso, Lully und Jannequin sang. Die altehrwürdigen Chorkompositionen klangen etwas rauh und zeigten auch in der Vehemenz des Vortrags unverkennbar ungarisches Gepräge; die zeitgenössischen ungarischen Tonsetzer beherrschen virtuos die Sprache des westlichen Impressionismus, in der sie sich leicht und ohne merkbaren Stilbruch auszudrücken vermögen. Die charakteristischeste und aufschlußreichste Komposition war wohl der 121. Psalm von Kodaly, ein meisterhaft gesetzter gemischter Chor, dessen bald ruhiger, bald bewegter Fluß an zwei Stellen durch typisch ungarische Synkopenwendungen wie von kleinen Katarakten unterbrochen wird. Man horcht auf, stutzt einen Augenblick — und man lächelt und läßt sich's Wohlgefallen, da auf so bezaubernd naive Weise sich Hochgeistiges mit Gesund-Volkstümlichem verbindet.

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