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Musik der jungen Generation

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Paul Angerer ist 19 Jahre alt und hat soeben sein 32. Opus vollendet. Sämtliche Kompositionen sind während der letzten drei Jahre entstanden. Diese außergewöhnliche Produktivität und die Tatsache, daß die ganze stattliche Werkreihe im Alter von 17 bis 19 Jahren geschaffen wurde, könnte genügen, dem jungen Künstler einige Aufmerksamkeit zu schenken. Vor allem aber ist es die Qualität und die Eigenart seines Opus, die uns veranlassen, auf seinen Schöpfer hinzuweisen. Von dem Gesamtstil und der Persönlichkeit Angerers mögen die folgenden Werktitel eine Vorstellung geben: Fünf Fugen für Klavier (op. 1), Sinfonia I für Orgel, Streicher, Bläser und Pauken (op. 17), Missa pro choro a capella (op. 21), Vier Orgelpfeifen stellen sich vor (vier kleine Stücke für Clavichord, op. 24), Resurrectio, Musica sacra pro Organo (op. 28), Sinfonia II Dominica in passione für einstimmigen Knabenchor, Bläser und Pauken (op. 30).

In dem Werkverzeichnis Angerers fehlen das lyrische Klavierlied und alles, was im entferntesten an Programmusik oder Tongemälde erinnert. Paul Angerer kommt von der Kirchenmusik her und ist von der Gregorianik stark beeinflußt. Rein äußerlich ist dies daran zu erkennen, daß er von seinem 14. Werk an sowohl auf die Angabe des Taktes als auch der Tonart verziehtet. Diese Musik mag vielen ungewohnt und neu klingen, denn ihr formaler Aufbau ist beim ersten Hören nicht immer gleich zu erkennen, sie verzichtet auf den Klangreiz und spricht das Gefühl nur mittelbar an. Aus der Kraft ihrer Themen und dem bewegten Linienspiel der Stimmen aber schlägt uns eine geistige Leidenschaft entgegen, die im Werke eines so jungen Menschen ungewöhnlich ist. Mit dem Terminus „Frühreife“ — der in so irreführender und oberflächlicher Weise ja auch auf das Jugendwerk Hofmannsthals angewendet wurde — ist hier nichts anzufangen. Es ist über das Wesen dieser Musik auch nichts ausgesagt, wenn man sie — wie das geschehen ist — als „Tongestrüpp“ bezeichnet oder die Vermutung ausspricht, daß der Komponist eine Art musikalisches Zusammenlegspiel treibe.

Gewiß, es gibt nur gute und schlechte Musik; solche, die den Hörer anspricht, und andere, die ihn kalt läßt. Es ist aber andererseits zu bedenken, daß zu allen Zeiten der jeweils neuen, „modernen“ Musik in stereotyper Weise immer wieder die gleichen Vorwürfe gemacht wurden. Und es ergibt sich bei der Beurteilung der Musik unserer Jüngsten noch eine andere Schwierigkeit, die im Generationenproblem wurzelt: diejenigen, denen es obliegt, über die neueste Musik zu urteilen, gehören fast durchweg der mittleren und älteren Generation an. Sie haben das Heraufkommen der neuen Musik um die Jahrhundertwende und nach 1918 miterlebt und mit Interesse und Teilnahme das Schaffen etwa eines Strauß, eines Mahler oder Hindemith verfolgt. Es ist aber, entwicklungsgeschichtlich gesehen, ein gewaltiger Unterschied, ob man zwischen 1870 und 1900 geboren ist oder 1927! Für die jüngste Generation gehören die genannten Meister bereits zu den „Klassikern“. Ihre Errungenschaften sind Ausgangspunkte und Absprungsbasis. Meister der Moderne wie Schönberg, Bartok und Strawinski kommen von der Spätromantik her und haben den Impressionismus durchlaufen bevor sie zu ihrem Eigenstil durchstießen. Die Einflüsse dieser künstlerisch sehr ergiebigen Richtung aber vermochte kaum einer jemals ganz zu verleugnen. In den Kompositionen Angerers wird man vergebens nach Klang- und Farbreizen suchen. Einige der frühesten Werke lehnen sich — kaum spürbar — an Reger an. Und dann beginnt ein Neues. Es wäre müßig und methodisch verkehrt, wollte man diese neue Kunst ausschließlich an alten Begriffen (die ja aus der Musik der Vergangenheit abgezogen sind) messen und nach ihnen beurteilen. Dies Neue aber, und das spüren wir, hat geistiges Format, Kraft und Eigenart. Es wird sich so oder so durchsetzen. Wenn einmal einige seiner größeren Werke, etwa das Oratorium „Gesang von mir selbst“ nach Walt Whitman oder eine der Sinfonien, aufgeführt werden, dann mag die breite Öffentlichkeit ihr Urteil über das Werk abgeben.

Wir wollen dem jungen Komponisten keine Vorschußlorbeeren gewähren. Wir möchten aber gerne dahin wirken, daß ihm durch Unverständnis und vorschnelle Kritik sein erstes Hervortreten nicht unnötig erschwert wird. Angerers Weg wird ohnedies kein leichter sein. In einem programmatischen Aufsatz bekennt sich der junge Komponist zum Stil der Gotik und zur Gregorianik. Von ihrer Erneuerung verspricht er sich auch die Erneuerung des gesamten Musiklebens — bei Schaffenden und Hörern. Diese Anregung ist gut und wertvoll, aber darauf allein darf sich die neue Musik nicht besthränken. (Wir haben gesehen, wie rasch die Erneuerung der barocken Formen in eine Sackgasse geführt hat.) Angerer wird sich, wenn er eine Persönlichkeit ist, auch von diesem Stil und Einfluß lösen. Er möge werden, was er ist. Dann wird seine Musik auch die Musik seiner Zeit sein. Nicht nur ihr Ausdruck und Abbild soll sie sein, sondern — im Streben nach dem Höchsten — auch ihr Urbild.

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