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Olivier Messiaen

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In dem ersten Konzert, bei dem uns französische Musik durch einen französischen Dirigenten vermittelt wurde, erklang auch ein Werk des vor wenigen Monaten bei uns noch völlig unbekannten Olivier M e s-s i a e n. Ein Werk, das schon durch seinen Titel auffiel und sich keiner uns bekannten Richtung oder Schule der französischen Musik einordnen ließ. Nach einer Einleitung, die „tumultuoso“ alle chaotischen und dämonischen Kräfte zu beschwören schien, legte der Dirigent den Stab plötzlich aus der Hand und zelebrierte den folgenden reinen Streichersatz wie eine Vokalkomposition. Und es war in der Tat ein Chorus mysticus, der uns fvon den ersten Akkorden an in seinen Bann zwang. Man spürte deutlich: hier spricht ein wirklich Neuer, nicht nur eii. Neu-Töner. Diese Komposition, „Les offrandes oubliees“, ist ein Frühwerk des heute Achtunddreißigjährigen, und mancher mag sich gewünscht haben, neuem Werke von Messiaen kennenzulernen. Nun hatten wir Gelegenheit, anläßlich des Besuches des Komponisten in Wien drei seiner letzten Schöpfungeii zu hören: „Die Visionen des Amen“, „Zwanzig Blicke auf das Jesuskind“ und — im Rahmen des letzten Konzerts der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik — das „Quartett für das Ende der Zeiten“.

Diese vier gewichtigen und umfangreichen Arbeiten, die einen größeren Ausschnitt aus dem nicht sehr opusreichen Schaffen Mes-siaens darstellen, gestatten es, sich von der Persönlichkeit und der Eigenart des französischen Komponisten ein Bild zu machen. Wir finden im Werk Messiaens alle jene Elemente, die zum Wesen der modernen Musik gehören: eine außerordentlich differenzierte Harmonik, die bis an die Schwelle der Atonalität reicht; daneben sehr originelle homophone Stellen, ja ganze homophone,-nur aus Unisono-Oktavläufen bestehende Sätze sowie eine eigentümliche und einprägsame Behandlung des Rhythmischen. Sosehr in einzelnen Teilen die lineare Stimmführung zutage tritt, so dominiert doch in den meisten Stücken das harmonische Element, die Farbe.

Also eine Art Neo-Impressionismus? Wir würden uns scheuen, diesen Terminus auf Messiaen anzuwenden, wenn er dadurch als ein im Gefolge Faures, Debussys oder Ra-vels schwimmender Epigone gekennzeichnet werden sollte. Als Neu-Impressionismus ließe sich der Stil Messiaens nur dann kennzeichnen, wenn wir etwa an das Verhältnis zwischen Surrealismus und Realismus denken. Denn Farbe ist bei Messiaen nicht Selbstzweck, sondern Ausdrucksmittel, und zwar eines unter vielen. Und damit kommen wir zum Eigentlichen, Wesentlichen der Mes-

siaenschen Musik: zu ihrem Gehalt. Bevor wir uns diesem zuwenden, mögen uns ein paar Date über das Leben und Schaffen Me:s:.aens der Person des Künstlers näherbringen.

Olivier Messiaen, 1908 geboren, entstammt einer bereits seit mehreren Generationen im Inneren Frankreichs ansässigen flämischen Familie. Mit 22 Jahren ist er Organist der großen Orgel der Trinite, mit 33 Jahren Professor für Harmonielehre am Pariser Konservatorium. Messiaen ist also in erster Linie Kirdienmusiker (Organist und Komponist), daneben Musikgelehrter, der sich nicht nur intensiv mit der Gregorianik, sondern auch mit indischer Musik, insbesondere mit der Hindu-Rhythmik, beschäftigte. Und er studiert als Laboratoriumswissenschaftler die physikalischen Grundlagen der Musik, Elektrotoninstrumente und ähnliches. Alle diese Erkenntnisse werden in seinem Werk fruchtbar und verschmelzen zu einer eigenartigen Synthese. So schrieb er im vergangenen Jahr „Drei kleine Liturgien über die göttliche Gegenwart“ für folgende Besetzung: neun Frauenstimmen, Celesta, Klavier, Vibraphon, Martenot-Wellen (ein neues französisches Elektrotoninstrument), Schlagwerk mit Gong und Streichorchester.

Nicht weniger eigenartig als dieser Aufführungsapparat sind die Titel seiner Werke und deren einzelne Sätze. In den im Jahre 1943 für zwei Klaviere komponierten „Visionen über das Amen“ tragen die einzelnen Teile unter anderem folgende Titel: Amen der Schöpfung, Amen der Agonie Christi, Amen der Weisen, der Heiligen und des Gesanges der Vögel usw. Das folgende, 1944 entstandene Klavierwerk „Zwanzig Blicke auf das Jesuskind“ zeigt Messiaens Eigenart und Größe vielleicht am eindringlichsten. (Nur nebenbei sei bemerkt, daß auch die Form dieser Komposition ungewöhnlich ist. Die zwanzig in innerem Zusammenhang stehenden Klavierstücke sollen ohne größere Pause hintereinander gespielt werden und haben eine Aufführungsdauer von über zwei Stunden. Sie stellen nicht nur an den Ausführenden, sondern auch an den Hörer außerordentliche Anforderungen.) Auch hier mögen einige Titel andeuten, was Messiaens Musik ausdrücken will: Blick des Vaters, Blick des Sohnes auf den Sohn, Blick des Geistes der Freude, Das allmächtige Wort, Der Kuß des Jesuskindes, Blick der Stille, Ich schlafe, aber mein Herz ist wach.

Das zuletzt aufgeführte Werk von Messiaen war das „Quatuor pour la fin du temps“ für Klavier, Klarinette, Violine und Cello. Es wurde 1943 im Kriegsgefangenenlager Görlitz geschrieben und dort vom Komponisten zusammen mit anderen kriegs-

gefangenen Musikern zum erstenmal aufgeführt. Das Werk hat acht ausgedehnte, scharf profilierte Sätze, die unter anderem heißen: Kristalliturgie, Vokalise für den Engel, der das Ende der Zeit verkündigt, Lob der Unsterblichkeit Jesu.

Aus all diesen Werk- und Satztiteln erkennen wir mit aller Deutlichkeit, welcher Art der Gehalt der Messiaenschen Musik ist und wo die Quellen seiner Inspiration entspringen. Messiaen ist ein moderner Mystiker, dem es gelingt, durch seine Musik auch den Hörer an seinen Ekstasen und Visionen teilhaben zu lassen. Freilich ist es nicht immer leicht, den innerseelischen Vorgängen, die durch das Medium der Musik nach außen projiziert werden, zu folgen. (Wobei von der Kühnheit der Ausdrucksmittel ganz 'abgesehen sei.) Wie alle mystischen Phänomene sind sie einmalig, einzigartig und letzten Endes unerklärlich, mit der Ratio nicht faßbar. „Was ich anstrebe“, sagt der Komponist mit Bezug auf das zuletztgenannte Werk, „ist dies: religiöse Gefühle auszudrücken. Ich möchte in meiner Musik das Wesen des katholischen Glaubens gestalten als ein Wunderbares, Unsichtbares, Geistiges: das Ende der Zeiten, die Verklärung der Körper, die Allmacht Gottes überall und jederzeit, die Geheimnisse der Dreifaltigkeit und der Inkarnation — das sind die Ziele, denen ich musikalisch zustrebe . . . Doch das erste ist doch immer das Herz und die Liebe.“

Wir suchen unter den schaffenden Musikern der Gegenwart vergebens nach einer so klar umrissenen Erscheinung, nach einer so eindeutigen (man mag sie auch einseitig nennen!) Stellungnahme. So legt das Werk Messiaens Zeugnis ab für eine innerlich bewegte Zeit, die nicht nur in der Musik, sondern auch in der Dichtung, dem Tanz und der bildenden Kunst zum Ausdruck drängt. Überdies aber tritt uns aus den Werken Messiaens eine große musikalische Begabung voller Kühnheit, Kraft und Eigenart entgegen, die uns glauben läßt, daß seinen Schöpfungen auch als Kunstwerken Dauer beschieden sein wird.

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