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Acht Fragen an die Avantgarde

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Heber das Thema „Wo hält die neue Musik“, veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Neue Musik gemeinsam mit der Musikalischen Jugend Oesterreichs im Rahmen des Musikseminars des Europäischen Forums, Wien, ein Rundgespräch der Komponisten Boulez (Paris), Nono (Venedig) und Stockhausen (Köln) mit den Wiener Musikkritikern Fiechtner, Winter und Willnauer. Die acht als Diskussionsgrundlage dienenden Fragen wurden von Dr. Franz Willnauer formuliert.

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Heber das Thema „Wo hält die neue Musik“, veranstaltete die Internationale Gesellschaft für Neue Musik gemeinsam mit der Musikalischen Jugend Oesterreichs im Rahmen des Musikseminars des Europäischen Forums, Wien, ein Rundgespräch der Komponisten Boulez (Paris), Nono (Venedig) und Stockhausen (Köln) mit den Wiener Musikkritikern Fiechtner, Winter und Willnauer. Die acht als Diskussionsgrundlage dienenden Fragen wurden von Dr. Franz Willnauer formuliert.

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I. IST SERIELLE MUSIK HÖRBAR?

Hören von Musik, so hat uns die moderne Gestaltpsychologie belehrt, ist Hören von klingenden Gestalten. Wie in unserem „inneren Ohr“ (genauer: in einem bestimmten Teil unseres Gehirns) aus den einzelnen Luftschwin- .gungen ein Ton, ein Klang, eine Melodie wird, ist nach wie vor ein Geheimnis der Natur. Bekannt ist aber, daß es gewisse optimale Bedingungen für diese Gestaltwerdung von Musik gibt: markante rhythmische Gliederung, tonale Beziehungen und erkennbare Formentsprechungen. Dem tonalen System, das auf der Tonika- Dominant-Beziehung beruht und die von Andreas Werckmeister (1691) eingeführte Temperierung der Instrumente benützt, kommt dabei besondere Bedeutung zu. (Daß es nicht das einzige Hör- und Musiziersystem ist, beweist ein Blick auf die ganz andersartigen Skalen der indischen und indianischen, der frühgriechischen, der madjarischen Musik.)

Die serielle Musik unserer Tage hält an der Basis der in zwölf Halbtöne geteilten chromatischen Skala zwar fest. Aber sie muß auf das wesentlichste Abfolgeprinzip der tonalen Musik — die Abfolge heißt: Wiederkehr des gleichen und Veränderung — verzichten, da sie sich durch die Regel, alle Elemente des Klanggeschehens (Höhe, Stärke und Dauer des Einzeltons, Lage, Register, Klangfarbe usw.) rationalmathematisch festzulegen, einem gänzlich anderen Gesetz unterworfen hat.

Fern von allen ethischen oder weltanschaulichen Ueberlegungen muß festgestellt werden, daß serielle Musik anders klingt als die bisher gewohnte, von Bach bis Schönberg in einer einzigen Tradition stehende Musik. Der Eindruck ist oft beschrieben worden: diffuse, komplexe Klangpunkte oder Klangbündel. Das tönende Ergebnis ist völlig neu, unsere Ohren aber sind die alten geblieben. Ist es nur die , mangelnde Erfahrung, der zufolge wir aus diesen Klangpunkten noch keine „Gestalten“ hören können? Oder gibt es qualitative Verschiedenheiten, nach denen das Prinzip von Repetition und Variation überhaupt nicht zur Anwendung kommen kann? Wenn dies der Fall ist, wie kann dann der Hörer die Form dieser Musik (die sie ohne Zweifel besitzt, wenn auch Massenphänomene und nicht Symmetrie ihre Elemente sind) empfinden? Hört der Komponist sie in seiner Vorstellung bei der Konzeption oder Niederschrift des Werkes? Gibt es als Hörhilfe den Weg über das Auge, also über das Studium der Partitur? Oder muß auf die in der Zeit sich anreichernde Hörerfahrung gewartet werden?

II. FREIHEIT UND KONSTRUKTION

Der Weg unseres Jahrhunderts ist ein Prozeß fortschreitender Rationalisierung. Auch für die Künste, also auch für die Musik gilt dieser Befund. Es ist müßig, die verlorengegangene „Unschuld“ der Musik zu betrauern: Entwicklungen, wie die zur Atonalität und zur Zwölftontechnik, lassen sich nicht rückgängig machen; ebensowenig lassen sich die Denkakte zurücknehmen, die diesen Entwicklungen zugrunde liegen. Technik und Mathematik spielen in den kompositorischen Unternehmungen der jungen Musiker erwiesenermaßen eine große Rolle. Das Zerrbild des Komponisten, der mit Logarithmenbuch, Schere und Zirkel seine Werke schafft, ist sattsam bekannt. Wie wichtig ist nun tatsächlich für den Komponisten die Konstruktion? Sieht er wirklich in der Tatsache, daß eine Komposition den ihr substituierten mathematischen Prozessen genügt, den künstlerischen Letztwert des Werkes? Oder muß Musik auch für ihn einen hinter ihrem technisch-immanenten Vollzug liegenden Wert ausdrücken? Wie weit bedingen sich Ausdruck und Konstruktion gegenseitig? Wie ist die Freiheit des Komponisten gesichert — mag sie nun Einfall genannt werden oder durch die Ausdeutung eines literarischen Textes oder ganz allgemein durch ein außermusikalisches Programm gefordert sein? Hält die Musik von heute noch auf dem Stand völliger serieller Durchorganisation oder ist die Entscheidungsfreiheit des Komponisten schon wieder in das kompositorische Verfahren einbezogen?

III. WORT UND TON

Dieses Problem, von ehrwürdigem Alter und in ebenso fruchtlosen wie reizvollen Lösungsversuchen immer wieder angegangen, lautet in der „seriellen Fassung“: Wie kann bei völliger Wahrung der Konstruktion der vom Text hergeforderte Ausdruck erzielt werden? Oder: Wie kann bei der Unterordnung der Komposition unter materialfremde Gesetzmäßigkeiten das Kunstwerk musikalisch integer erhalten werden? Wie vermeidet der Komponist die beiden Klippen Illustration (= Tautologie) und Beziehungslosigkeit? Wie schafft er die Synthese? Und gibt es Texte, die einer Vertonung mit seriellen Mitteln besonders entgegenkommen?

IV. INSTRUMENTALE ODER ELEKTRONISCHE MUSIK?

Die Entdeckung der Möglichkeit elektronischen Komponierens brachte eine ungeheure Erweiterung aller kompositorischen Dimensionen mit sich. Die elektrisch im Frequenzgenerator erzeugten Töne und Tongemische setzten die temperierte Skala der zwölf Halbtöne endgültig außer Kraft. Jede Tonhöhe ist damit erreichbar, jede erdenkliche rhythmische Gliederung möglich, der Phantasie des Schaffenden sind damit Klangfarbenmischungen zugänglich, wie sie die herkömmlichen Instrumente nie herzustellen vermocht hatten. Wie freilich ist, zum Zwecke musikalischer Gestaltung, eine sinnvolle Auswahl aus diesem unabsehbaren Material möglich? Schlägt die Beschränkung, die sich der. Komponist dabei auferlegen muß, nicht schon wieder um in einen der gebotenen Freiheit konträren Zwang?

Solche Dialektik prägt auch ein zweites Phänomen der elektronischen Musik: ihrer völlig rechnerisch-abstrakten Organisation entspricht der „konkrete" Assoziationen erheischende Klangeindruck, der von Rauschen bis Winseln, von Scharren bis Dröhnen reicht. Ist dieser Nebeneindruck gleichfalls dem Willen des Komponisten unterworfen? Wünscht er ihn oder duldet er ihn zumindest?

Junge Komponisten, die den elektronischen Bereich erschlossen haben, komponieren heute wieder Musik für Instrumente. Beweist dies nicht, daß die Möglichkeiten der Elektronik bereits erschöpft sind? Oder liegt im Miteinander von instrumentaler und elektronischer Musik ein ästhetischer Reiz von besonderer Stärke? Wird die Musik von morgen elektronische Musik oder instrumentale Musik sein?

V. MUSIK UND RAUM

Die elektronische Musik hat als erste tatsächlich funkeigene Musik ein wichtiges Nebenergebnis gezeitigt: sie hat den Komponisten auf die Möglichkeit hingewiesen, den Raum in die musikalische Konzeption einzubeziehen. In verschiedenen elektronischen Kompositionen, wie sie an den Studios einzelner Rundfunkstationen hergestellt wurden, wandert der Klang infolge der an verschiedenen Seiten des Raumes postierten Lautsprecher nachverfolgbar durch den Saal. Zur rein musikalischen Bewegung kommt ein akustisch visueller Eindruck; Diese Möglichkeiten, den Raum in das Hörgeschehen einzubeziehen, wurden in jüngster Zeit auch auf den Bereich der Instrumentalmusik übertragen. Welche Möglichkeiten, die Musik und das Musikleben zu aktivieren, ergeben sich hier?

Sind neue Konzertsäle denkbar und wie könnten sie aussehen? Wird es einmal neben den Musikmuseen unserer gegenwärtigen Konzertsäle genuin andere, funktionelle Musikräume geben? Und kann sich dieses Prinzip der Raumkomposition auch für das Musiktheater als fruchtbar erweisen?

VI. NEUE MEDIEN

Damit wird eine Utopie beschworen. Sie soll aber nicht nur auf das Große und Effektuierende beschränkt bleiben, sie soll auch im Detail aufgespürt werden. Abwendung vom traditionell chromatischen Musizieren, serielle Ordnung aller musikalischen „Parameter“, Denken in neuen Strukturen — das sind Elemente der Musik von heute. Verlangt dieses neue musikalische Denken nicht auch nach einer zweckmäßigeren Notenschrift? Zwingt die Einbeziehung elektronischer Aufzeichnungen nicht überhaupt zu einem neuen Notationssystem? Erfordert die Befassung der Komponisten mit der Zwischenwelt zwischen elektronischem und instrumentalem Bereich nicht auch die Erfindung neuer Instrumente, die diese Welt zum Tönen bringen können?

VII. WIE KANN MAN SERIELLE MUSIK BEURTEILEN?

Unaufhaltsam vollzieht sich der Vorstoß der seriellen Musik. Immer mehr Kompositionen werden in dieser Technik geschrieben, immer mehr Interpreten stellen sich ihren Anforderungen, immer mehr unbefangene Zuhörer werden mit ihr konfrontiert. Der Wunsch, im Musikkritiker einen Helfer zu haben, der klärt, erklärt und über gut und schlecht befindet, ist verständlich. Den Kritikern selber aber sind die meisten Werke fremd, die Basis von Hörgewohnheit und Hörkonvention ist nicht vorhanden. Entscheidet nun auch hier das spontane Evidenzgefühl der „Richtigkeit“ oder gibt es Kriterien, die vermittelt werden können? Reicht die übliche Terminologie aus, um solche Werke richtig zu charakterisieren und zu werten? Legt der Komponist, der über sein Werk ja die höchste Bewußtseinsklarheit hat, auf Beurteilung und Information der Unbefangenen durch den Kritiker überhaupt Wert? Urteilt er selbst über eigene und fremde Werke nach dem Erfüllungsgrad der Konstruktionsregeln, oder mißt er auch den Ausdruckskomponenten Bedeutung zu?

VIII. TECHNIK ODER STIL?

Daß das dodekaphonische und später das serielle Verfahren. Techniken seien, reklamierten sowohl die Anhänger wie die Gegner der Neuen Musik. Diese, um die Reinheit der von ihnen vertretenen überkommenen Richtungen zu bewahren, jene, um die Freiheit zu jeglicher persönlicher Expression mit dem Medium der Musik zu dokumentieren. Dennoch scheint heute ein Stadium erreicht zu sein, in dem die eingetretenen Konsolidierungen über die rein technischen Verfahrensweisen weit hinausgehen. Gestalt und Emotion dieser Musik, Textwahlund klangliche Realisierung, Formanspruch und Sinnerfüllung sind zu dominierenden „Invarianten innerhalb der wechselnden ästhetischen Erscheinungen“ geworden: sie gleichen einander, ob ihre Schöpfer in Schweden oder in Frankreich, in Japan oder in Polen, in den USA oder in Italien beheimatet sind. Ist es da nicht gerechtfertigt, von der seriellen Musik als einem Stil zu sprechen? Und gibt dies nicht Hoffnung, daß noch weitere sinnvolle Entwicklungen möglich sind?

Wie der Weg der zeitgenössischen Musik im einzelnen weitergehen wird, ist eine Frage an die prophetische Gabe in. jedem von uns. Sinnvoller ist schon die Frage, ob die gegenwärtigen instrumentalen und seriellen Mittel noch weiter entwicklungsfähig sind. Aber auch hier kann die Dreitakthypothese unterstellen, daß dem Wellengang alles geschichtlichen Geschehens zufolge nunmehr ein Rückschlag kommen muß.

Daher sei am Ende dieser Fragenreihe, deren jede die Gewißheit ihrer Unbeantwortbarkeit in sich trägt, der soziologische Aspekt nochmals eröffnet, der. schon den Beginn gekennzeichnet hat: Wird sich die Kluft zwischen Produktion und Rezeption, zwischen den schöpferischen Musikern und' dem aufnehmenden Publikum wieder verringern?

Wenn diese Fragen dazu beigetragen haben, daß die letzte von ihnen mit einem Ja beantwortet werden kann, dann ist ihnen die Erfüllung ihres Sinnes in vollem Maße zuteil geworden.

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