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Die Tonkonserve

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Mit den Worten „Schallplatte" und „Grammophon" verbindet sich für uns immer noch die Vorstellung von einem gleichförmigen, kreischenddieiseren Lärm, der aus einem bunten Trichter ertönt; dies waren die ersten Anfänge des verbesserten Edison- Apparats. Heute erklingen aus dem modernen, mattglänzenden Plattenspieler in Millionen Heimen und tausenden Unterhaltungsstätten Menschen- und Orchesterstimmen, die kaum mehr von denen einer Originalaufführung zu unterscheiden sind. Das Nadelgeräusch ist fast ganz verschwunden, die Höhenschwankungen des Tones sind auf ein Minimum reduziert, die Klangfarbe der einzelnen Instrumente ist sehr naturgetreu geworden und das Tonvolumen kann — ohne daß der Klang verzerrt wird — fast bis zum Fortissimo gesteigert werden.

Enge Zusammenarbeit von Musikern und Technikern und jahrelange unermüdliche Versuche haben zu diesem Resultat geführt. Besonders der Rundfunk und der Tonfilm waren an der Vervollkommnung der mechanischen Klangwiedergabe sehr interessiert und führend beteiligt. Aufnahmen werden nicht nur auf Hartgummiplatten hergestellt, die auch heute noch den Markt beherrschen, sondern auch auf Wachsplatten (die bedeutend billiger sind, aber nur einige Male abgespielt wenden können), auf Lackfolien, Metall, Glas und anderen Kunststoffen. Die Laufzeit einer normalen Schallplatte beträgt etwa viereinhalb Minuten. Die sogenannten „Bandverfahren" ermöglichen eine ununterbrochene Spieldauer von etwa einer halben Stunde, so daß auch der längste Symphoniesatz ohne störende Unterbrechung wiedergegeben werden kann. Die Schallaufzeichnung erfolgt auf optischem oder mechanischem Weg auf Filmstreifen oder dünne Bänder aus Stahl, Kunststoff oder Papier. Ähnlich wie beim Tonfilmstreifen können diese Bänder aneinandergefügt oder „geschnitten“ weiden,

wodurch die Korrektur unvollkommener oder schadhafter Stellen ermöglicht ist. —

Um ideale Aufnahmen zu erzielen, muß eine ganze Reihe von akustischen Gesetzen berücksichtigt werden. Freilich gibt es auf diesem Gebiet noch genug Imponderabilien. So werden zum Beispiel bei Orchesteraufnahmen mit Solisten die Instrumente ganz anders aufgestellt als im öffentlichen Konzert. Gewisse Zusammenstellungen von Instrumenten eignen sich besonders gut zur mechanischen Wiedergabe, etwa Streichinstrumente, am besten das Streichquartett. Sehr heikel sind die tiefen Blechbläser und das Schlagwerk; die Wiedergabe des Klavierklanges hat große Fortschritte gemacht. Am schwierigsten ist die Aufnahme großer Ensembles, insbesondere des großen Chores mit Orchester.

Trotz dieser bedeutenden Vervollkommnungen wird kein Musikfreund die mechanische Wiedergabe eines Musikstückes einer guten Originalaufführung vorziehen. Doch wollen wir andererseits die großen Möglichkeiten, die uns die Schallplatte bietet, nicht unbeachtet lassen. Ihr Stoffkreis ist riesengroß und umfaßt den der gesamten Musik. Am verbreitesten sind, neben der Tanz- und Unterhaltungsmusik, die Aufnahmen der auch in unseren Konzerten gespielten Werke der älteren klassischen, romantischen und neueren Meister. Von fast allen bedeutenden Werken gibt es mehrere Ausgaben, deren Vergleich sehr instruktiv sein kann.

Von besonderer Bedeutung sind die Aufnahmen ältester Musikwerke, die im Konzertsaal kaum zu hören sind. Die Sammlung „Anthologie Sonore“ des Brüsseler Instituts Pro Musica Antiqua etwa umfaßt Lieder und Leiche deutscher Minnesänger des 12, und 13. Jahrhunderts, italienische geistliche Lieder und Balladen aus dem

14. Jahrhundert, Tänze des Mittelalters und franko-flämische Lieder des 15. Jahrhunderts. Die Aufnahmen dieser Sammlung zeichnen sich durch sorgfältige Rekonstruktion der alten Texte aus und sind — unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Aufführungspraxis alter Musik — in der ursprünglichen Orchestrierung wiedergegeben.

Ein anderes Gebiet ist das der Volksmusik der Primitiven und Exoten. Unser Notensystem ist für die graphische Wiedergabe dieser Musik nicht vollkommen genug: komplizierte Verzierungen, Glissandi und Vierteltöne können nur andeutungsweise wiedergegeben werden, Klangfarbe und improvisatorische Abweichungen fehlen bei diesen Aufzeichnungen ganz. Hier eröffnet uns die Schallplatte eine neue Welt des Klanges und läßt uns mit Beschämung erkennen, wie lückenhaft unsere Kenntnis der Musik aller Zeiten und Zonen ist, wenn wir sie etwa mit unserer Übersicht auf dem Gebiet der Dichtung oder der bildenden Kunst vergleichen.

Neue Ausblicke eröffnen sich auch auf das Gebiet der zeitgenössischen Musik. Wir meinen hier jene wertvollen Werke, die sich beim ersten Anhören nicht erschließen und für die es geradezu verhängnisvoll ist, daß sie — bedingt durch geringe Publikums. Wirkung und oft hohe technische Anforderungen — so selten in den Konzertsälen erklingen. Nur wiederholtes Hören kann uns hier eine tiefere Erkenntnis vermitteln und ein gerechtes Urteil ermöglichen. (Eine ausführliche Liste der auf Schallplatten aufgenommenen Werke zeitgenössischer europäischer und nordamerikanischer Komponisten findet sich in dem interessanten Buch „Neue Musik“ von A. Copland. Besondere Bedeutung kommt auf diesem Gebiet jenen Aufnahmen zu, die vom Komponisten selbst gespielt, geleitet oder beaufsichtigt wurden. Sollte die Möglichkeit authentischer Aufnahmen nicht mehr genützt und wahrgenommen werden? Denn was gäben wir nicht darum, die Improvisationen eines Bach, Reger oder Chopin — wenn auch nur in der unvollkommenen Wiedergabe durch die Schallplatte — hören zu können?

Die Schallplatte, in vielen Millionen Exemplaren verbreitet, stellt eine musikalische Großmacht dar, die uns — wie alles aus dem Bereiche der Technik — zum Segen oder zum Unheil werden kann. Der ganze Fragenkomplex ist gerade jetzt von besonderer Aktualität: in Amerika sind die ausübenden Musiker ernsthaft in Gefahr, durch die mechanische Musikwiedergabe in zunehmendem Maße entbehrlich und damit brotlos zu werden. Von 1800 Radiostationen senden nur etwa 300 „lebende“, das heißt Originalmusik.’ Aus 70 Millionen Radioapparaten und 400.000 Plattenspielern tönt Tag und Nacht „künstliche“ Musik. Die Gewinnbeteiligung der Musiker an den Aufnahmen, durch welche sie jetzt arbeitslos gemacht werden, ist minimal. Daher wehren sie sich gegen die Überschwemmung mit mechanischer Musik unter der Führung ihres Präsidenten, der die Mitwirkung der 225.000 Musiker der American Federation of Musicians bei der Herstellung von Schallplattenaufnahmen verboten hat. Auch ein generelles Verbot bei der Mitwirkung an Radiosendungen wird erwogen.

Von solchen Krisen sind wir vorläufig noch fern. Was die Amerikaner zuviel haben, mangelt bei uns noch fast zur Gänze. Der Ravag zum Beispiel fehlen viele wichtige Schallplatten. Auch bei uns wurden während des letzten Jahres Aufnahmen gemacht, Aufnahmen der größten Meisterwerke österreichischer Tonkunst, von unseren besten Orchestern gespielt, von unseren hervorragendsten Chören gesungen und unter der Leitung erstklassiger Dirigenten. Audi technisch sollen diese Aufnahmen ganz hervorragend sein und an Vollkommenheit alle bisherigen übertreffen. Diese Schallplatten werden in vielen tausend Exemplaren in die Welt hinaus wandern und zweifellos zum Ruhm unserer Musikkultur beitragen. In absehbarer Zeit werden wir sie uns allerdings kaum kaufen können, und auch von dem großen materiellen Gewinn werden wir nichts zu sehen bekommen, so nötig unser armes Land die Devisen gebrauchen könnte. Denn eine ausländische Firma hat die Aufnahmen gemacht, da sich keine einheimische gefunden hat, welche diese große Chance wahrgenommen hätte. Doch das soll kein Vorwurf an die Adresse der großen ausländischen Firma sein, sondern nur ein Hinweis für unsere eigene Industrie und diejenigen, die es angeht.

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