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Industrieform und Schallplatte

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Der Begriff der „industriellen Formgebung“ wird noch immer viel zu eng gezogen. Im nachstehenden Artikel werden an einem typischen Industrie- und Massenprodukt neue Aspekte des f „Industrial Design“ hervorgehoben: Eine absolut aus der Funktion, dem Material und dem Herstellungsvorgang bedingte Form, identische Wiederholung in Riesenserien bei unveränderter Präzision. Für ästhetische Willkürakte ist hier kein Platz. Und dennoch bleibt es eine Tatsache, daß die — wiewohl auch in Massen identisch erzeugten — mikroskopisch kleinen Veränderungen der Form den wesentlichen Bestandteil in der Differenzierung der Tonspur ausmachen und dadurch in mehrmaliger technischer Umsetzung erst die immer mehr vervollkommnete Wiedergabe von Tonahfolgen und Tonkunstwerken möglich machen. Ein Phänomen, das in dieser Sicht überraschend neue (kulturgeschichtliche) Gedankengänge erschließt.

Im Zeitalter der sogenannten ersten industriellen Revolution am Ende des vorigen Jahrhunderts ging die Gestaltungstendenz für Industrieformen zumeist vom Handwerk aus.

In der heutigen Zeit, in der wir die zweite industrielle Revolution in der Erscheinungsform der Automatisierung, erleben, wird vielfach die Industrieform aus der Fertigungsmethode entwickelt.

Wenn wir die Formgestaltung des Tonträgers Schallplatte im Verlaufe seiner Entwicklung verfolgen, sehen wir, wie sich die Form der flachen Platte als Ergebnis der industriellen Massenfertigung entwickelt hat; sie wird in einer vollautomatischen Schallplattenpresse mit einem Druck von etwa 100 Tonnen, mit einer

Geschwindigkeit von zwei Platten pro Minute aus dem verfügbaren Material hergestellt.

Wollen wir die gegebene Industrieform Schallplatte auf die Möglichkeiten und Details ihrer Formgebung untersuchen, so liefert uns die technische Betrachtung ihres industriellen Erzeugungsvorganges die dafür notwendigen Unterlagen.'

DIE TONAUFZEICHNUNG

Uns allen ist. die „Notenschrift“ als graphisches Mittel zur Aufzeichnung der Musik bekannt; die technische Tonschrift zur Aufzeichnung von Tönen auf der Schallplatte heißt nach ihrem Erfinder „Berliner-Schrift“ und ist eine „Horizontalschrift“. Um etwa 25 Minuten Musik auf einer Platte mit 30 cm Durchmesser wiedergeben zu können, muß der Abspielsaphir eine spiralenförmige Wegstrecke von zirka 500 m auf der Plattenoberfläche durchlaufen. Kurze Bogenstücke von Hundertstelmillimeter Länge lassen den Saphir in der Zeiteinheit häufig hin- und herschwingen und ergeben hohe

Töne (bis 10.000 Hertz Schwingungen je Sekunde), und große Bogenstücke, in der Größenordnung von Zentimetern aufgezeichnet, geben die tiefen Töne wieder (etwa ab 20 Hertz). — Der erfahrene Toningenieur kann, wenn er die Bogenstücke im Mikroskop betrachtet, nicht nur die Reinheit der Wiedergabe beurteilen, es gelingt ihm selbst manchmal das Musikstück zu erkennen, wie der Notenleser die aufgezeichnete Musik lesen kann.

Die ursprüngliche Methode, Töne aufzuzeichnen, war die von Edison erfundene „Tiefenschrift“. Zum Unterschied von der „Horizontalschrift" erfolgen hier die tonfrequenten Schwingungen in der vertikalen Ebene der Tonrille.

Das moderne Verfahren des sogenannten „Stereotones“ oder Raumtones trägt der Tatsache Rechnung, daß der Mensch mit zwei Ohren hört: dementsprechend wird die Musik an zwei den beiden Ohren entsprechenden Stellen aufgenommen und durch zwei getrennte Lautsprecher dem Zuhörer wieder vermittelt; für diesen Zweck hat die Technik die horizontale und vertikale Abtastung des Tones bei der Führung auf nur einer „Tonspirale“ in der Stereotonplatte verwirklicht.

MATERIAL

Die durch die Vervielfältigungsmethode in der hydraulischen Presse und die immer sich erweiternden Möglichkeiten der Tonaufzeichnung gekennzeichnete Industrieform der flachen unzerbrechlichen Kunststoffplatte von heute hat einen sehr wesentlichen Entwicklungsprozeß von der Materialseite her durchgemacht. — Der erwähnte Tonaufnahme- und -Wiedergabezylinder von Edison war aus Wachs. Mit der Erfindung der eigentlichen „Schallplatte“ begann der Siegeszug des Materials „Schellack“ für diesen Artikel. Millionen Tonnen dieses von der indischen Schellacklaus ausgeschiedenen Naturharzes wanderten im Laufe von Jahrzehnten in die Schallplattenindustrie bis um die vierziger Jahre dieses Jahrhunderts der „Kunststoff“ ein ernster Konkurrent zu werden begann und heute der Prozeß der Verdrängung des Schellacks in den industrialisierten Ländern, wie zum Beispiel auch Oesterreich und Deutschland, praktisch abgeschlossen ist. (Ein riesiger Preissturz dieses bisher so wichtigen indischen Exportartikels auf dem Weltmarkt war die Folge, besonders da auch sein zweites Verwendungsgebiet in der Tischlerei immer mehr verschwindet.)

Die Erfindung der Langspielplatte durch den Wiener Peter Goldmark hatte als Voraussetzung die Entwicklung des Vinylite-Kunststoffes durch die Union Carbide in USA. Während auf der alten Schellackplatte aus Gründen der Körnigkeit des nur mit Füllstoffen verwendbaren Materials und dem dadurch entstehenden Nadelgeräusch nicht mehr als drei Rillen pro Millimeter der Plattenoberfläche untergebracht werden konnten, gelang es, auf der Kunststoffplatte bis zu zehn und elf Rillen pro Millimeter unterzubringen. Da man zusätzlich noch d,urch die Entwicklung der Präzision bei den Antriebsmotoren die Geschwindigkeit des Plattenumlaufes von 78 auf 3 31/3 Umdrehungen pro Minute vermindern konnte, so ergaben beide Maßnahmen zusammen die fünffache Spieldauer der bisherigen Platten mit den üblichen Durchmessern von 25 und 30 cm. Durch die geschilderte technische Entwicklung gelang es nunmehr, ganze Musikwerke von einer Schallplatte ungestört abhören zu können, und damit hat die Schallplatte erst kulturelle Bedeutung erlangt. (Davon geben auch die Ver- , kaufszahlen der großen Schallplattenkonzerne Aufschluß, wenn man hört, daß Jahr für Jahr der wertmäßige Verkaufserlös des Anteiles dei klassischen Musikprogramms am Gesamtprogramm der Firmen steigt.)

DIE FARBE

Die schwarze Farbe der Schallplatte entspricht ihrer Tradition, wie etwa der gute Firmenname oder ein Markenzeichen. Technisch gesehen, könnte sie auch bunt sein, aber bunte Platten setzen sich nur beim Kinderprogramm durch. Ein schöner Glanz ist gleichzeitig ein Kriterium für die Qualität der Auspressung der Tonrillen der Schallplatte und somit ein Gütezeichen für diese Industrieform.

Elektrostatisch neutrales Material wird gefordert, um die Anziehung von Staub zu verhindern.

Alle diese Kriterien, aus Material und Herstellungsprozeß abgeleitet, bedingen die klaglose Funktion und damit die Qualität eines Serienproduktes mit immer zunehmender kultureller und wirtschaftlicher Bedeutung; der Schallplatte.

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