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Popularität'und Denkmalschutz

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Wir haben ein Denkmalschutzgesetz für Werke der Natur und der bildenden Kunst; wir haben ein Urheberrechtsgesetz zum Schutze des geistigen Eigentums in Poesie und Musik. Aber während das erstgenannte betrebt ist, bestehende Werke vor Verfall und auch vor Versehandelung, vor Mißbrauch zu bewahren, begnügt man sich auf dem Gebiete der Dicht- und der Tonkunst damit, das Recht des Autors gegen Plagiat und unbefugte Auswertung in Nachdruck oder Aufführung eine begrenzte Zeit hindurch zu schützen. Keine gesetzliche Bestimmung bewahrt jedoch Werke aus älterer Zeit — und gerade die großen, zu dauernder Wertschätzung erwachsenen Werke, die der vielfachen Kritik und Überkritik von Mit- und Nachwelt erfolgreich standgehalten haben — vor dem Zugriff geschäftstüchtiger oder künstlerisch unzulänglicher Kräfte. Kein Gesetz schützt die Neunte davor, im Konzertsaal und im Radio ohne Probe (da sie ja doch bei jedem großstädtischen Ordiester „steht“) abgehaspelt zu werden, kein Gesetz schützt die h-moll-Symphonie und die Ouvertüre zu den „Lustigen Weibern“ vor dem schlimmsten Unglück, durch immer wiederholte Wiederholungen zu Tode gedroschen zu werden.

Naturgemäß ist es unser kostbarster musikalischer Besitz, der von solchem Sdiicksal bedroht wird. Man mag mit Redit einwenden, daß es doch ein erfreuliches Zeichen lebendigen Kulturkontaktes ist, ein Beweis, wie tief diese Werke ins Volk gedrungen sind, wenn sie immer und überall gespielt und gesungen werden, wenn sie nicht bloß Erhebung für die „Gebildeten“ bedeuten.. Genuß für die Esoteriker der Musik oder gar Leckerbissen für Feinschmecker, vielmehr Millionen und Millionen zum dauernden geistigen Besitztum geworden sind. Zugegeben! Und wir wollen und können die segensreiche Wirkung der dilettantischen Kunstpflege gar nicht unter-i schätzen. Ihr kommt es zu, die im Volke schlumVnernden Kräfte zu wecken und ihm wenigstens einen schmalen Zugang in das Heiligtum des Geistes zu erschließen. Es sei ferne von mir, die im schönsten Sinne rührenden Bemühungen solcher Kreise etwa überheblich zu ironisieren. Aber wir dürfen unser Auge nicht davor versdiließen, daß es auch einen Fluch der Popularität gibt, der geistige Emanationen höchsten Ranges herabzerrt. Die Neunte hat in jedem Sinne Aus-“ nahmscharakter, ihre Aufführung dürfte nur ein seltenes Fest sein und gehört nicht in den Alltag des Serienbetriebes. Und klassische Werke, die technisch keine allzu großen Schwierigkeiten bieten, eignen sich darum noch nidit zum Tummelplatz für die Selbstzufriedenheit von Anfängern, denn wie der wahre Arzt keine leichten und schweren Krankheiten unterscheidet, so weiß der Musiker nichts Kostbares, das gut zu

spielen leicht wäre, da sich hinter den technischen Problemen erst die geistigen auf tun, von denen der Dilettant oft nicht einmal ihr Vorhandensein ahnt. Und Herrlichkeiten unserer musikalischen Literatur sind nicht tägliches Brot, geistige Größen wie Sdiubert nicht Duzbrüder von Hinz und Kunz, sonst wird aus einem Schubert — Freunde, wir haben's triebt — der „Franzi aus Lichtental“ oder gar „unser Schwammerl“.

Damit rühren wir an ein weiteres: an die grausame Verzerrung des geistigen Profils, dienen gerade unsere Größten schutzlos preisgegeben sind. Was ist im Läufe der Zeit aus dem wehmutüberschatteten, an Beethovenschen Zügen reichen Antlitz Schuberts geworden, zumal seit jenem Sängerfest 1928! Was aus dem demütig-stolzen Römerkopf Anjon Bruckners, der halb als „Musikant Gottes“, halb als hilfloses Bäuerlein im Andenken der Gegenwart fortlebt! Und selbst die aus der umfassendsten Menschlichkeit zur Höhe ragende Gestalt Goethes wurde nicht davor bewahrt, zum Operettentenor eines „Singspiels“ degradiert zu werden, das — bei aller Hochschätzung Lehars als eines wahrhaften Meisters auf seinem engeren Gebiet muß es gesagt werden — ebenso den geschichtlichen Tatsachen wie dem guten Geschmack Gewalt antut.

Der Fluch der Popularität! Er hat all jene Bearbeitungen und Arrangements verschuldet, die seinerzeit mit den Potpourris begannen und seither so vieles, was auf dem Altar der Kunst an Gewaltigem geopfert wurde, in Konservendosen zu billigem Preis in den Handel gebracht haben. Da gibt es für jede nur erdenkliche Besetzung (und selbst für manche unausdenkliche) Mozart, Beethoven und Wagner — der in seiner Pariser Hungerzeit selbst gezwungen war, Opernarrangements für Cornet ä piston herzustellen. Da gibt es „erleichterte Ausgaben“ ad usum Delphini, Transpositionen, die dem Wesen eines Werkes ins Gesicht schlagen (was natürlich keineswegs von jeder Transposition gilt), da gibt es Transskriptionen, die aus einem sinnvollen Zusammenhange irgendeine ohrgefällige Einzelheit herausreißen. So wird aus Kunst Betrieb, aus Betrieb Geschäft, aus Geschäft Kitsch. Das bezieht sich nicht auf die zwei- und vierhändigen Klavierauszüge, die einen unentbehrlichen Notbehelf darstellen, sich die musikalisdie Substanz insbesondere größerer Werke gegenwärtig zu machen, und die das Klangbild zwar vergröbern und vereinfachen, aber doch nicht verzerren.

Es ist gewiß, daß nichts dem Fluch der Popularität sosehr Vorschub leistet wie die Mechanisierung der Musikwiedergabe durch Rundfunk und Schallplatte. Es ist ebenso gewiß, daß wir diese Technisierung heute nicht mehr missen können, auch nicht mehr missen wollen. Wir haben ihr unendlich viel zu danken. Auch hier gilt et nur, ihrem Miß-

brauch entgegenzutreten. Bis

zum Überdruß ist bereits darüber debattiert worden, ob das Radio mehr zur Entspannung und Zerstreuung oder mehr zur Sammlung anregen solle, welche Art von Musik es also seinen Hörern in erster Linie zu bieten habe. Man könnte billigerweise vor dieser Entscheidung einwerfen: Es muß nicht in einem fort gedudelt und gepfiffen werden! Wenn der Rundfunk aber ernste Musik zu bringen gewillt ist, so dürfte er — trotz des großen Bedarfes, den er unter allen Umständen zu befriedigen hat — sich nicht immer in den ausgefahrenen Gleisen einer Tradition bewegen, die oft zum Euphemismus für Gedanken- und Phan-

tasielosigkeit wird. Es gibt so viel Unbekanntes oder doch minder Bekanntes und dabei Wertvolles von unseren Großen, und es gibt so viel Wertvolles von unbekannten oder doch minder bekannten Tondichtern. Ohne aber in diesem Zusammenhange auf

die eigene Problematik der Radiomusik näher einzugehen, darf auch hier die Forderung erhoben werden, das Erhabene und Gigantische nicht als Verlegenheitsauskunft, als Lückenbüßer zu mißbrauchen. Unsere Meister müssen nachgerade gegen solche Anbiederungsversuche geschützt werden.

Wenn ich aber von geistigem Denkmalschutz spreche, so denke ich keineswegs daran, etwa eine gesetzliche Maßnahme anzuregen. Mit „Maßnahmen“ ist auf musischem Gebiete so wenig getan. Das öffentliche Gewissen möchte ich wachrufen, das Gewissen des Geschmacks und der künstlerischen Verantwortung. Aufrütteln möchte ich alle, die es

angeht, dem Geiste zu geben, was des Geistes ist, und der Größe gegenüber jene Distanz zu wahren, auf die sie menschlich und künstlerisch Anspruch hat. Denn wer sich dichtnah an den Fuß des Turmes stellt, kann nie seine Höhe ermessen.

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