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Gebrauchsmusik von heute

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Man könnte diese Art Musik, wie sie zu gewissen Tageszeiten auf allen Sendestationen zu hören ist, auch Unterhaltungsmusik nennen, wenn nicht gegen diese landläufige Bezeichnung allerhand einzuwenden wäre. Fürs erste ist dabei eine Unterhaltung häufig durchaus nicht so sicher, zum anderen aber hat sie sich als ein braves „Mädchen für alles“ erwiesen, das sich nicht nur zur Werbung für Kaffeemischungen, Suppenwürzen, Liköre und Waschmittel gebrauchen läßt, sondern auch als Füllmittel für die Zeit zwischen Sprechsendungen und als Vor- und Nachmusik, falls etwa ein Manuskript um einige Minuten zu kurz geraten sein sollte. Gelegentlich aber bestreitet sie auch in schillerndem Abendkleid eigene Sendungen und darf hier als musikalisches Mannequin die neuesten Schlagermodelle zur Wahl stellen.

Der erfolgreichste Vermittler der „Gebrauchsmusik von heute“ ist der weltumspannende und bis in die letzten Ausläufer menschlicher Siedlungen vordringende Rundfunk. Darin liegt eine Gefahr, auf die von Zeit zu Zeit hingewiesen werden sollte, wenn man nicht will, daß der musikalische — und nicht nur er, sondern auch der sittliche — Geschmack vieler tausend Hörer allmählich stumpf, kritiklos und allzu bescheiden werde und sich an etwas gewöhne, das seinem inneren Wesen ursprünglich fremd war.

Es gibt eine große Anzahl von Hörern, die solche Musik in Bausch und Bogen ablehnen und damit ein voreiliges persönliches Werturteil fällen, das auf keinen Fall verallgemeinert werden darf. Denn —• um es vorweg zu sagen — auch in diesem Schrein der Frau Musica liegt vieles, was einen Vergleich mit der bisher gewohnten guten Musik nicht zu scheuen braucht. Soweit solche Tonschöpfungen „ehrlich“ sind, kann füglich nichts gegen sie eingewendet werden. Echte Jazzmusik, die Volksweisen und Tanzmelodien anderer Zonen und Völker sind in ihrer Art und für ihr Heimatland sicher ebenso schön und wertvoll wie die entsprechenden Musiken unseres Volkes. Und wenn es ein Verdi nicht unter seiner Würde fand, einen Tango zu schreiben, so steht es keinem von uns an, über solche Musik leichtfertig den Stab zu brechen. Sie besticht durch den eigenartigen Reiz ihrer Tonsprache, durch die Zauberkunststücke ihrer Instrumentierung und kann eigentlich nur mit einem Fremdwort gekennzeichnet werden, für das unsere Sprache — bezeichnenderweise — keinen voll entsprechenden Ausdruck besitzt: sie ist einfach raffiniert, und mit diesem Raffinement betört sie nicht nur den musikalisch weniger kritischen Hörer, sondern gerade die Feinhörigen, die von den aufregenden, ja oft verblüffenden Rhythmen, dem schillernden Farbenspiel der Instrumentierung, dem meisterhaft berechneten Wechsel zwischen Rührseligkeit und Leichtsinn, tollem Uebermut und erotischer Schwüle zu gleicher Zeit angezogen und verletzt, gefesselt und verwirrt, bestochen und verärgert werden.

Es ist ein Angriff auf breiter Front: Man mag den Zeiger wandern lassen von Kopenhagen bis Madrid, von Mailand bis Brüssel, von Paris bis Wien — überall zu gewissen Zeiten das gleiche Attentat auf Trommelfell und Nerven. Und dazu Bundesgenossen in den eigenen Linien! Wird doch diese musikalische Importware im Inland von einer ganzen Reihe mehr oder weniger gewandter und ernst zu nehmender Tondichter nachgebildet. Zum Teil verstehen sie ihre Sache ausgezeichnet, manchmal allerdings merkt auch der Laie, daß die Herren bloß ausländischen Tabak rauchen, im übrigen aber noch vor einem Jahrzehnt stolz darauf waren, ein richtiges Wiener Lied oder einen Walzer geschrieben zu haben.

Die angedeutete Gefahr wird dadurch nicht gebannt oder auch nur vermindert, daß sich vi"le Schöpfer „leichter“ Musik demonstrativ dem fremden Einfluß nicht ergeben und in gewohnten Formen schreiben. Denn leider ist vieles von dieser „Unterhaltungsmusik“ derart dürftig in der Erfindung, oberflächlich in der Instrumentierung und belanglos im Gehalt, daß der Hörer die weitaus kräftiger und besser gewürzten und daher anregenderen Gaben der fremden Musik vorzieht. Sehen wir doch der „Gebrauchsmusik von heute“ einmal ins Gesicht! Man muß kein prüder Moralist oder verachtender Finsterling sein, wenn man „Schlager“ ablehnt, wie sie zu Dutzenden durch den Aether schwirren, deren Text in ermüdender Gleichförmigkeit auf das hinausläuft, was man „erotische Bastelstunde“ nennt und wovon — um mit den Worten eines dieser Meisterwerke zu reden — „alle Frauen jede Nacht träumen“! Daß diese Texte auf die natürlichsten Forderungen der Dichtkunst mit den abgebrauchtesten und billigsten Reimen antworten, nimmt keinen wunder. Man muß auch kein „ewig Gestriger“ sein, wenn man es zumindest geschmacklos findet, Schuberts Tänze oder Chopins Minutenwalzer in den Zweivierteltakt zu übertragen und „auf Jazz“ zu frisieren! Das aber ist geschehen und noch manches mehr! Es sollte doch einmal ein eifriger Rundfunkhörer zusammenstellen, was er im Lauf eines Monats an solchen (musikalischen) Schändungen zu hören bekommt. Es würde ein erbaulicher Beitrag zu einem musikalischen Knigge!

Erst bei genauerem Hinhören wird man auch inne, daß es mit den Melodien (besonders bei „Schlagern“) vielfach nicht sonderlich besser steht als mit den Texten. Hat man ihnen erst das flitterbunte Gewand der Instrumentation abgestreift und läßt man sich durch die meist virtuose Darbietung nicht bestechen, so enthüllt sich eine überraschende Einfachheit, um nicht zu sagen Einfalt der Melodie. Häufig steht sie heimischen und fremden Volksweisen so nahe, daß es schwer fällt, an eigene Erfindung des Schöpfers zu glauben. Das beliebte Sängerduo lustwandelt mehr oder weniger eng umschlungen auf wohlgepflegten Sexten- und Terzenwegen, geschickt eingebaute Frauen- oder sogar Kinderchöre (die allerdings die Bedenklichkeit mancher Texte noch peinlicher hervorheben) dienen als Aufputz, und so tänzelt das besagte brave Mädchen für alles als Mannequin eines musikalischen Welt Warenhauses in dem so betörenden, vielversprechenden und kaum etwas enthaltenden Cocktailkleidchen über den Laufsteg.

Seit sich die Gebrauchsmusik dieser Art auch bei uns das Bürgerrecht erschmeichelt hat, ist in bezug auf den Geschmack schon viel Unheil geschehen. In manchen Kreisen hat man die Gefahr erkannt und versucht, ihr durch gesteigerte Pflege der Volksmusik zu begegnen. Aber auch hier ist eine gewisse Vorsicht geboten, denn nicht alles, was auf Hackbrett, Harmonika ‘und Gitarre gespielt wird, ist echtes Volksgut. (Zudem ist es nicht jedermanns Sache, Tag für Tag Volksmusik zu hören!)

Hier müßte mehr getan werden, und manches deutet darauf hin, daß eine Renaissance der Gebrauchsmusik kommt, an der alle Kräfte mitschaffen, die überhaupt auf diesem Gebiet eingesetzt werden können.

Vielleicht wäre der Rundfunk berufen, zusammen mit seinen Hörern einen Anfang zu machen. Der Rundfunk dadurch, daß er noch mehr als bisher von der reichen Fülle „leichter Musik“ Gebrauch macht, die in Singspielen, Buffoopern, guten Operetten, Serenaden und sonstigen kleineren Tonwerken alter und neuer Zeit zu finden ist; der Hörer dadurch, daß er nicht abläßt, seinen Wunsch nach guter Musik deutlich kundzutun.

Unsere lebenden Tondichter von Rang und Ansehen dürfen es nicht verschmähen, neben ihren anspruchsvolleren Werken gelegentlich auch „Gebrauchsmusik“ zu schreiben. Es wird sie darum kein Verständiger geringer schätzen, wenn er daran denkt, wie viel solcher Musik auch Bach, Mozart, Haydn und andere Große geschrieben haben. Es müssen solche Tondichtungen auch durchaus keine „Konzessionen an den Publikumsgeschmack“ sein, im Gegenteil, unsere lebenden Meister würden damit einen wertvollen und dankbar gewürdigten Beitrag zur musikalischen Volksbildung leisten und hätten darüber hinaus den persönlichen Vorteil, daß sie mit Volkskreisen in Verbindung träten, denen sich ihre hohen Werke nur schwer erschließen. Gewiß gibt es bereits eine Reihe derartiger Schöpfungen, sie bilden in den Sendefolgen des Rundfunks aber noch immer die Ausnahme.

Wenn Schöpfer, Vermittler und aufnahms- bereiter Hörer im Sinn einer Neugestaltung der Gebrauchsmusik Zusammenwirken, dann kann die Gefahr der Verwilderung des musikalischen Geschmacks gebannt werden.

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