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HAHN UND HARLEKIN

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Tch bewundere zwar die Harlekine Cezannes und Picassos, aber den Harlekin liebe ich nicht. Er trägt eine Samtmaske und ein i n allenFarbenschillerndesKostüm. Nachdem er sich beim Hahnenschrei verleugnet hat, verbirgt er sich. Er ist ein Hahn der Nacht.

Dagegen liebe ich den echten Hahn, den durch und durch bunten. Der Hahn kräht zweimal Cocteau und haust in einem Bauernhaus.

Es lebe der Hahn, nieder mit dem Harlekin!

Es wäre wünschenswert, Büchern ein spezielles Wörterverzeichnis voranzuschicken, dank dem — jeder Begriff erhält seine Wertbestimmung — viele sprachliche Mißverständnisse vermieden würden.

Fast alle Mißverständnisse rühren von sprachlichen Verwechslungen her.

Das Wort Schlichtheit, das in diesen Aufzeichnungen häufig vorkommt, verdient eine nähere Bestimmung. Man darf Schlichtheit weder für ein Synonym von Armut noch von Rückgang halten. Die Schlichtheit ist ebenso fortschrittlich wie das Raffinement, und die Schlichtheit unserer modernen Musiker ist nicht mehr die unserer Pianisten.

Die Schlichtheit, die sich als Reaktion auf ein Raffinement einstellt, hängt von diesem Raffinement ab; sie erlöst, sie verdichtet die erworbene Fülle.

Ein Kunstwerk muß alle Musen zufriedenstellen — ich nenne das: Probe durch neun.

Ein Meisterwerk ist eine durch Schach und Matt gewonnene Partie.

Hundert Jahre später verbrüdert sich alles. Aber man muß sich eilt tüchtig geschlagen haben, ehe man seinen Platz im Paradies der Schöpfer erwirbt.

Ein Künstler vermag tastend eine Geheimtür zu öffnen, ohne je zu begreifen, daß diese Tür eine Welt verbarg.

Gleiches geschieht, wenn ein Mann, der als Vater einer Schule gilt, weil er sie begründete, eines Tages die Achseln zuckt und sie mit einem Augenzwinkern verleugnet: das tut in keiner Weise der Schule Abbruch.

Die Quelle mißbilligt fast immer den Flußlauf.

Der Künstler ist der wahre Reiche. Er fährt im Auto. Das Publikum folgt im Omnibus. Kann es also verwundern, daß es in einigem Abstand folgt?

Die Schnelligkeit eines durchgegangenen Pferdes zählt nicht.

Wenn es scheint, daß ein Werk seiner Zeit voraus ist, so nur deshalb, weil seine Zeit hinter ihm zurück ist.

Ein Künstler überspringt keine Stufen; tut er es trotzdem, so ist es Zeitverschwendung, denn er muß sie später doch hinaufsteigen.

Ein Künstler, der zurückweicht, verrät keine Sache. Er verrät sich selbst.

Die Ergriffenheit, die von einem Kunstwerk herrührt, ist nur dann wesentlich, wenn sie nicht durch Gefühlserpressung erreicht worden ist.

Verachte den Menschen, der Beifall sucht, und verachte den Menschen, der ausgepfiffen werden will.

Mitunter muß man das hochhalten, was man ablehnt. Wie könnte man zum Beispiel Strauss nicht gegen diejenigen verteidigen, die ihn aus reinem Deutschenhaß oder zugunsten Puccinis angreifen?

Sich erst setzen, dann denken.

Dieser Grundsatz ist keine Entschuldigung für die Gesetzten. Der wahre Künstler ist immer in Aufruhr.

Ein Dirigent ist gleichzeitig Vogelsteller und Vogelscheuche.

Das Publikum fragt. Man muß nicht mit Manifesten, sondern mit Werken antworten. Das Schöne sieht immer leicht aus. Das eben verachtet das Publikum.

Befasse dich, auch wo du tadelst, nur mit Erstrangigem.

Sanft schließt man Toten die Augen; sanft muß man auch den Lebenden die Augen öffnen. -A tim nov isbs; nsiew nsjjsj “Bs gibt hmge'Werkev'tfiä kurz sind. Wagrfeis? Werk ist ein langes Werk, das lang ist, ein ausgedehntes Werk, denn die Langeweile erschien dem alten Gott als nützliches Rauschgift, um sich der Stumpfsinnigkeit seiner Getreuen zu versichern.

Schönberg ist ein Meister; alle Musiker und Strawinsky verdanken ihm irgend etwas, aber Schönberg ist vor allem ein Musiker der Wandtafel.

Das deutsche Publikum hat einen guten Magen. Es häuft darin ein kunterbuntes Allerlei an, das es ehrerbietig aufnimmt, ohne es zu verdauen.

Bei uns stößt ein junger Musiker sogleich auf Kampf, das heißt Stimulans. In Deutschland findet er Ohren ... Man erkennt ihn an, man akademisiert ihn. Es ist um ihn geschehen.

Das Publikum ist schockiert über das Charmant-Lächerliche der Titel und Bezeichnungen Saties, aber es respektiert das Enorm-Lächerliche des „Parsifal“-Librettos.

Debussy ist vom rechten Weg abgekommen, weil er vom deutschen Hinterhalt in die russische Falle lief. Von neuem löst das Pedal den Rhythmus auf, schafft eine Art Gefühlsduselei, der kurzsichtige Ohren aufgeschlossen sind.

Wenn ich von der „russischen Falle“, dem „russischen Einfluß“ spreche, will ich- damit nicht sagen, daß ich die russische f 'usik gering schätze. Die russische Musik ist bewundernswert, eben weil sie russische Musik ist.

Die franko-russische oder die franko-deutsche Musik ist recht mittelmäßig, auch wenn sie sich an Mussorgski oder Strawinsky, an Wagner oder Schönberg inspiriert. Ich verlange eine französische Musik Frankreichs.

In der Musik ist die Melodie die Linie. Die Rückkehr zur Zeichnung wird eine Rückkehr zur Melodie bedingen.

Schluß mit den Wolken, den Wellen, den Aquarien, den Undinen und den nächtlichen Düften; wir brauchen eine Musik, die fest auf Erden steht, eine Alltagsmusik.

Wenn ich sage, daß manche Zirkusvorstellungen und Revuen mir lieber sind als alles, was im Theater gegeben wird, so will ich damit nicht sagen, daß sie mir lieber sind als alles, was im Theater gegeben werden könnte.

Unsere Musiker haben den Gießbach Wagner durch ein darübergespanntes Seil vermieden, aber das Seil kann ebensowenig wie der Gießbach als ehrliches Mittel der Fortbewegung betrachtet werden. Man fordert musikalisches Brot.

Seit zehn Jahren lenken Chardin, Ingres, Manet und Cezanne die europäische Malerei, und der Fremde kommt zu uns, um die Gaben seines Volkes ihrer Schule darzubringen. Ich prophezeie nun, daß die französische Musik die Welt beeinflussen wird.

Angeekelt vom Ungefähren, Verschwommenen und Ueberflüssigen, von Verschnörkelungen und modernen Tricks und oft von einer Technik versucht, deren kleinste Kniffe er kennt, beschränkt Satie sich freiwillig darauf, in einfachem Holz zu schnitzen und schlicht, sauber, klar zu bleiben. Aber das Publikum verabscheut die Offenheit.

Erik Saties Opposition besteht in einer Rückkehr zum Schlichten. Das ist übrigens die einzig mögliche Opposition in einer äußerst raffinierten Epoche.

Die Tradition verkleidet sich von Epoche zu Epoche, aber das Publikum durchschaut sie nicht und erkennt sie niemals hinter ihren Masken wieder. %

Was das Lachen der Maske hervorruft, ist nicht unbedingt schön oder neu, aber das Schöne und Neue ruft unbedingt das Lachen der Masse hervor.

„Pflege das, was das Publikum dir vorwirft, denn das bist du.“

Das Publikum gebraucht das Gestern nur als Waffe gegen das Heute.

Man verlangt zu viele Wunder; ich schätze mich schon glücklich, wenn ich einen Blinden hörend gemacht habe.

Das Publikum. — Diejenigen, die das Heute verteidigen, sich des Gestern bedienen und das Morgen ahnen (1%).

Diejenigen, die das Heute verteidigen, das Gestern zerstören und das Morgen verleugnen

(4%). :; “'/';.' ':'

Diejenigen, die das Heute verleugnen, un das Gestern zu verteidigen, nämlich ihr Heute

(10%).

Diejenigen, die sich vorstellen, daß das Heute ein Irrtum ist, und sich für übermorgen verabreden (12%).

Diejenigen von vorgestern, die das' Gestern billigen, um zu beweisen, daß das Heute die erlaubten Grenzen überschreitet (20%).

Diejenigen, die noch nicht begriffen haben, daß die Kunst kontinuierlich ist, und sich vorstellen, daß die Kunst gestern stehenblieb, um morgen weiterzugehen (60%).

Diejenigen, die weder das Vorgestern, das Gestern noch das Heute bemerken (100%).

Die Schöngeister haben das Wort „Stilisierung“ erfunden, um all das zu bezeichnen, was keinen Stil hat.

„Warum machen Sie das so?“ fragt das Publikum. „Weil Sie es nicht so machen .würden“, erwidert der schöpferische Mensch. j

, Ge f3 U s c h turti d, W e,r t. ~ .Wenn, ein Künstler die Friedensangebote des Publikums. annimmt, ist er besiegt.

Ein origineller Künstler ist zum Kopieren unfähig. Also genügt es, daß er etwas zu kopieren versucht, um originell zu werden.

Der Impressionismus hat am Ende eines langen Festes sein hübsches Feuerwerk abgebrannt. W i r müssen jetzt die Raketen für ein anderes Fest herstellen.

Der Impressionismus ist eine Nachwirkung Wagners. Das letzte Gurren des Gewitters.

Die impressionistische Schule ersetzt das Licht durch die Sonne, den Rhythmus durch den Wohlklang.

Debussy hat französisch gespielt, aber dabei aufs russische Pedal getreten.

Natürlich ist Wagner sehr gut, Debussy sehr gut; man spricht nur vom Sehr-Gut'en. Es ist unnötig, zu sagen, daß Saint-Saens, Bruneau und Charpentier sehr schlecht sind.

Das Genie läßt sich nicht besser analysieren als Elektrizität. Entweder hat man es oder man hat es nicht. Strawinsky hat es, er kümmert sich nie darum. Niemals macht er sich darüber etwas vor. Niemals berauscht er sich daran. Er setzt sich nicht der Gefahr aus, sich selbst zu rühren, sich selbst zu verschönern oder zu verhäßlichen. Er kanalisiert eine Rohkraft und speichert sie, um sie dienstbar zu machen, in Batterien auf, welche die Größe einer Fabrik oder einer Taschenlampe haben können.

Die Perfektionierung und Differenzierung der Batterien müssen an Stelle des alten Problems der Inspiration treten.

Jean Cocteaus Aphorismen zur Kunst, die bereits 1918 unter dem Titel „Le Coq et l'Arle-auin“ erschienen und bald vergriffen waren, sind insofern ein „legendäres“ Werk, als sie in der zeitgenössischen Musikliteratur oft erwähnt und zitiert werden, aber kaum jemandem zur Gänze bekannt waren. Es ist das Verdienst des Lan-gen-Müller-Verlages, München, dieses Büchlein erstmalig und vollständig in deutscher Ueber-setzung (durch Johannes Piron) vorzulegen. Es enthält die Aesthetik der Gruppe der „Six“ und Strawinskys, der in diesen Tagen in Wien weilte.

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