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Glanz der Renaissance

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Zweimal war das Gebiet zwischen Maas, Rhein und Mosel ein Schwerpunkt der mächtigen Reiche der Merowinger und der Karolinger — und damit des Abendlandes. Während der Regierungszeit Karls V. schufen belgische Humanisten hier auch ein geistiges und wissenschaftliches Zentrum. Gotik und Barock brach ten nicht nur eine Blüte der bildenden Künste, sondern auch der Musik hervor, deren wichtigste Vertreter Dufay, Ockeghem, Josquin und Willaert waren. Brügge, im vierten Jahrhundert nahe einer römischen Brücke (flämisch „Brug“) gegründet, heute die Hauptstadt Westflanderns, war im zwölften Jahrhundert eine der bedeutendsten Handelsstädte Europas und Drehscheibe für den wirtschaftlichen Verkehr zwischen den westlichen und den baltischen Ländern. Später wurde es auch zum Umschlagplatz für den Handel mit Nischni Nowgorod. Im dreizehnten Jahrhundert hatte Brügge 150.000 Einwohner (heute etwa nur ein Drittel), von denen 50.000 Arbeiter und Handwerker in 52 Zünften organisiert waren. In seinem Hafen landeten Galeeren aus Genua und Venedig, spanische und portugiesische Galeassen sowie schwere deutsche Schiffe. 17 Nationen waren durch Konsuln vertreten... Von all dem ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Denn Brügge war stets von einer Gefahr bedroht: der Versandung seines Hafens. Der Plan des Malers und Architekten Lancelot Blondeel zur Rettung der Stadt kam nicht zur Ausführung. In dieser Zeit wurde die Konkurrentin Antwerpen mächtig, und der 10 km lange Kanal, der Brügge mit dem Meer verbindet (wo heute sich der Hafen Seebrügge ausgedehnt), wurde erst in den Jahren 1896 bis 1906 gebaut. Hier legen nicht rur Petroleumdampfer an, sondern auch amerikanische Touristenschiffe, die für Brügge heute ebenso wichtig sind.

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Zweimal war das Gebiet zwischen Maas, Rhein und Mosel ein Schwerpunkt der mächtigen Reiche der Merowinger und der Karolinger — und damit des Abendlandes. Während der Regierungszeit Karls V. schufen belgische Humanisten hier auch ein geistiges und wissenschaftliches Zentrum. Gotik und Barock brach ten nicht nur eine Blüte der bildenden Künste, sondern auch der Musik hervor, deren wichtigste Vertreter Dufay, Ockeghem, Josquin und Willaert waren. Brügge, im vierten Jahrhundert nahe einer römischen Brücke (flämisch „Brug“) gegründet, heute die Hauptstadt Westflanderns, war im zwölften Jahrhundert eine der bedeutendsten Handelsstädte Europas und Drehscheibe für den wirtschaftlichen Verkehr zwischen den westlichen und den baltischen Ländern. Später wurde es auch zum Umschlagplatz für den Handel mit Nischni Nowgorod. Im dreizehnten Jahrhundert hatte Brügge 150.000 Einwohner (heute etwa nur ein Drittel), von denen 50.000 Arbeiter und Handwerker in 52 Zünften organisiert waren. In seinem Hafen landeten Galeeren aus Genua und Venedig, spanische und portugiesische Galeassen sowie schwere deutsche Schiffe. 17 Nationen waren durch Konsuln vertreten... Von all dem ist heute nicht mehr viel übrig geblieben. Denn Brügge war stets von einer Gefahr bedroht: der Versandung seines Hafens. Der Plan des Malers und Architekten Lancelot Blondeel zur Rettung der Stadt kam nicht zur Ausführung. In dieser Zeit wurde die Konkurrentin Antwerpen mächtig, und der 10 km lange Kanal, der Brügge mit dem Meer verbindet (wo heute sich der Hafen Seebrügge ausgedehnt), wurde erst in den Jahren 1896 bis 1906 gebaut. Hier legen nicht rur Petroleumdampfer an, sondern auch amerikanische Touristenschiffe, die für Brügge heute ebenso wichtig sind.

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Denn Brügge hat einen ungewöhnlichen Reiz und eine ganz besondere Atmosphäre. Das Stadtbild ist von einer seltenen Einheitlichkeit, ehrwürdig-altertümlich und durch strenge Bauvorschriften geschützt, die sich sowohl auf die Höhe der Häuser wie Giebel und Dächer beziehen. Immer läuten von irgendwoher leise Glocken (die kleine Stadt hat mehr als ein Dutzend sehenswerter alter Kirchen), in vielen Kanälen, die Brügge den Namen „Venedig des Nordens“ eingetragen haben, spiegeln sich die altersschwarzen Häuser, häufig fällt Regen, unid in der Dämmerung wirken die schweigsamen Grachten wie Totengewässer. „Jede Stadt ist wie ein Seelenzustand, und kaum hat man sie betreten, so teilt sičK'TJTeSer 'ZiustattdtMt üiid gght fif un dfc& r ist r¥in 'ftui im, das man mit der Luft in sich aufsaugt.“ Dieses Fluidum hat Georges Rodenbach in seinem Roman „Das tote Brügge“ auf faszinierende Weise eingefangen ... Draußen herrscht Dämmerung, aber im Innern der vielen Kirchen, Museen und anderer Gebäude leuchten in den herrlichsten Farben die Meisterwerke der flandrischen Maler, die hier besonders zahlreich vertreten sind.

Je zweimal wurden, seit 1964, Orgel- iund Cembalowochen veranstaltet,

1966 hieß das Thema „Polyphonie- Werke unter besonderer Berücksichtigung der Niederländer“. Heuer war das Motto: „Glanz der Renaissance und des Barock“, wobei die Mehrzahl der auigeführten Werke dem 15. und 16. Jahrhundert entstammt.

Diese Meister zeigen das Bedürfnis und die Fähigkeit, den Reiz der Sinnenerlebnisse in Gesetze und feste Form zu fassen. Sie theoretisie- ren viel und neigen zu einer gewissen „Gelahrtheit“. Das führt nicht nur zu einem Selbstverständnis der Musik, sondern auch zu einem großen Selbstbewußtsein der Musiker, die ihre Kunst als autonom betrachten. Sie unterscheiden zwischen einer musica simplex (civilis, vulgaris) pro illittaratis und einer musica composita vel regularis vel cananica pro litteraitis, entweder für den kleinen Kreis oder für die Kirche. Nachdem die Vorherrschaft der französischen und italienischen Musik gebrochen war, traten die Niederländer dm deutsch-belgisch- niederländischen Grenzgebiet auf den Plan und behaupteten sich eineinhalb Jahrhunderte, etwa 1430 bis 1570, indem sie gleichzeitig auch mächtig auf die Nachbarländer sowie bis nach Spanien und Italien einwirkten.

Mit dieser Musik, ihrem Stil und der Auffühirungspraxis hat man sich besonders während der letzten 20 Jahre eingehend beschäftigt, hat neue Werke entdeckt und entziffert, alte Instrumente instand gesetzt und rekonstruiert und auch ein speziell interessiertes Publikum gewonnen. Wie in Wien so gibt es heute fast in allen europäischen Ländern Solisten und Ensembles, die sich mit dieser Musik, ihrem Stil und der Aufführungspraxis befassen, und es ist ein Verdienst des künstlerischen Leiters der Brüsseler M usik - tage, Professor R. Dewitte, die interessanten und wahldurchdachten Programme zusammengestellt und eine Reihe der besten Gruppen gewonnen zu haben.

Der Hamburger Monteverdi-Chor sang unter der Leitung von J. Juer- gens im kleinen Stadttheater das ganze 1614 in Venedig entstandene sechste Madrigalbuch auf Texte von Petrarca, Marino, Rinuccini u. a. in verschiedenen Besetzungen: mit

2 bis 5 Solisten, Cembalo oder Positiv und 6 Instrumentalisten. Das gąffi&e, Ensemble. ei WießLich des- aüp ’etwa,, 50 Sängern] bestehenden Chores, ist auf Monteverdi spezialisiert, meistert vorbildlich alle Schwierigkeiten des 5- bis 7stimimi- gen Satzes und bringt alle jene feinen Nuancen und Akzentverschiebungen, die der Interpretation erst Leben verleihen. Es ist eine Musik voller Affekte, aber ohne Effekte, auf die sie verzichten kann. Denn es durchdringt alles ein ,großer Glanz von Innen“, der aber nicht, wie Rilke meinte, aus der Armut, sondern aus dem Reichtum kommt. Der nächste Abend war spanischer Polyphonie gewidmet, ausgeführt von der Coral Sant Jordi, Barcelona, die, 33 Personen stark, durch den Chor der Universität von Lissabon und den Jugendchor Jülich auf etwa 120 Stimmen im zweiten Teil des Konzerts verstärkt wurde. Dieser enthielt ausschließlich Marienhymnen und -lieder von Meistern des 16. und 17. Jahrhunderts, aber auch ein anonymes Werk aus dem „Libre Venmeil“ von Montserrat aus dem 14. Jahrhundert. Der prächtige, mit Bildern und Fresken reich geschmückte Gotische Saal des Rathauses verlieh dieser Musik einen besonders festlichen Rahmen, also auch Glanz von außen.

Im Memlxng-Museum, einem ehemaligen Krankensaal aus dem 13. Jahrhundert, der zum St.-Jans- Spital gehört, spielte das aus zehn Sängern und Instrumentalisten bestehende Renaissance-Ensemble Poehlert aus Mannheim Stücke aus dem Liederbuch des Arnt von Aich, aus der ein wenig akademischen Tabulatur des Domherrn zu Krasnik Jan von Lublin, „Exerzitien über die Scala“, die Palestrina zugeschrieben werdefl söwie Stücke von Arauxo, Sü&ätO, Tfiftäfnann, Prätorius ifnd anderen. Am stärksten beeindruckten die Lieder und „Lacrimae“ von Dowland als eines der ersten Werke emanzipierter Instrumentalmusik durch harmonische Kühnheit und dichtes polyphones Gewebe, vor allem aber- durch eine ganz spezifische Stimmung von Trauer und Melancholie.

Die deutschen Interpreten, immer schon tüchtig in der Pflege alter und altertümelnder Musik (von Jöde über Hindemith bis zur NS-Block- flötenkultur) neigten früher zu einem sehr stilstrengen, asketischen Musizieren. Dem Poehlert-Ensemble gerieten nur die Lautenstücke ein wenig zu vegetarisch. Alles andere kam, nicht zuletzt auch dank der interessanten Besetzung, unter der Leitung von Werner Poehlert recht wirkungsvoll zur Geltung. Auch das Erscheinungsbild der Interpreten hat sich geändert: Statt der bartlosen Männer mit Schiller-Kragen und nackten Knien sitzen nunmehr Herren in Frack oder Smoking auf dem Podium, und statt der magerblassen Mädchen mit Gretchenfrisu- ren singen und spielen jetzt hübsche junge Damen, deren Roben in Rot und Gold, schwarzem Sammet und Silber der Pracht dieser Musik angepaßt sind. Es war, in diesem Rahmen, auch ein optisch schöner Eindruck.

Mehrere Konzerte fanden in der San-Salvator-Kathedrale statt, deren ursprünglicher Bau auf das Jahr 961 zurückgeht und die mit kostbaren Glasgemälden, Gobelins und Malereien überaus reich ausgeschmückt ist. Hier führte der Chor ąųs §ąręęlona, vę£starkt„4urch zwei andere .Jugendchöre, unter ,der Leitung Öriol Martoreils die „Missa da Vittoria" auf und hier erklangen unter der Leitung von Kamiel Coo- remans sieben Psalmen von Heinrich Schütz, ausgeführt vom Polyphonie-Ensemble Charles Koenig, der Cantate Gent und dem Ensemble Audite Nova Antwerpen. Die beiden Teile des umfangreichen Programms wurden jeweils durch Choräle und Instrumentalsätze von Samuel Scheidt und Schnittelbach (1633 bis 1667) eingeleitet. Zu dem kleinen Chor, dem Doppelchor und dem Instrumentalensemble traten in den letzten Kantaten auch noch die Stimmen mehrerer Jugendchöre, die an einem internationalen Wettbewerb in Brügge teilnahmen.

Ein Konzert war hauptsächlich der Orgelmusik von Frescobaldi, einem neumteiligen „Gloria“ für Orgel von Couperin sowie einer Orgelmesse von Nicolas de Grigny gewidmet,

die Gabriel Verschraegen miit großer Meisterschaft vortrug. Aber den strahlendsten Glanz der Renaissance verbreiteten in dem mächtigen Kirchenraum mit dem langen Nachhall die Blechbläserstücke für jeweils vier Trompeten und vier Posaunen von Giovanni Gabrieli Frescobaldi, Jan de Macque sowie eine Suite aus der Royal Brass Music of King James (1603 bis 1625). Das prächtigste, zugleich harmonisch und komtrapunk- tisch avancierteste Stück war ein Canzon alia Francesca von Jan de Macque, neben dem alle späteren Festfanfaren, auch die jüngsten Datums, verblassen.

Dieser überwältigende akustische Eindruck mag das am nächsten Tag folgende Konzert des Alarius-En- sembles Brüssel im Gotischen Rathaussaal eil wenig überschattet ha- '.bęrįjpįi lag . jedenfalls' ni .an dęn Ausmhrenäen, die Sire Gamben und Violen gewandt zu handhaben wußten, schon gar nicht an dem ausgezeichneten Koloraturbairiton Andre Vandebosch, sondern an den schwächeren Kompositionen: Sonaten und Arien von Farina, Alessandro Scarlatti, Antonio Barthali und Antoine Forqueray, deren Schaffen bereits ins 18. Jahrhundert reicht. Neben der vorher gehörten Ranais- sancemusik konnte sich eigentlich nur eine Thetis-Kantate von Rameau durch ihre zupackende Dramatik und drastische Schilderungskunst behaupten.

An den letzten Abenden konzertierten noch mehrere Gastensembles mit Barockmusik, die wir nicht mehr hören konnten und auf die wir verzichten zu können glaubten, da es davon auch in Wien genug zu hören gibt. Die Schwerpunkte des Programms von Brügge waren die vielen kaum bekannten Werke der Renaissance. Erstaunlich und erfreulich, daß sich gerade für diese anspruchsvolle und edle Musik ein interessiertes Publikum von jeweils 700 bis 800 Personen fand, das etwa zur Hälfte aus jüngeren Hörern bestand und Abend für Abend die verschiedenen Säle und die Kathedrale füllte. Erstaunlich und erfreulich, daß es noch Menschen gibt, wie den Professor Robbrecht de Witte, der fast im Alleingang die Musiktage künstlerisch disponiert und leitet (und zwar ehrenamtlich), unterstützt von einer Schar junger Musikliebhaber, Schüler und Studenten, die sich als freiwillige Helfer gemeldet haben. Besonders erfreulich aber, daß ein so konsequentes und exklusives Musikfest die Unterstützung der Stadt und des Landes findet und daß sich Männer wie der Kulturreferent Advokat Traen und D. Huys als Tresorier schon seit mehreren Jahren für die gute Sache einsetzen. Aber der Bürgermeister Dhr. P. Vondamme weiß wahrscheinlich, daß er, indem er diese Bestrebungen unterstützt, auch seiner Stadt den besten Dienst erweist, die zu sehen für jeden Kunstfreund lohnend ist. (Uber die große Ausstellung anonymer flämischer Meister werden wir noch gesondert berichten.)

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