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DER HEILIGE BERG UND DIE KLEINEN ESCOLANS

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Es ist eine menschliches Verstehen überschreitende, aber unleugbar bestehende Tatsache, daß bestimmte Orte die-eer Erde dazu ausersehen sind, den Menschen das Bewußtsein eines Offenbarwerdens höherer Mächte zu vermitteln und ihnen besondere Gnaden zu schenken. Die unheimlichgroßartige Bergwelt des östlichen Katatonien, von welcher aus man an klaren Tagen das Mittelländische Meer erblickt, hat schon vor der Jahrtausendwende solche Menschen angezogen, welche ihr Leben der Kontemplation, der Meditation und dem Gebet widmen wollten. Sie haben die Loslösung von den Geschäften, den Kämpfen und der Banalität des Alltags gesucht und in der einsamen Wildnis des „zersägten Berges“ haben sie die Nähe des Allerhöchsten gefunden, „den Frieden, den die Welt nicht geben kann“. So entstanden die Einsiedeleien, welchen das im 11. Jahrhundert von Abt Oliva von Rtpoll nach der Regel des heiligen Benedikt von Nursia gegründete Monasterium ein Zentrum für ihr geistiges Leben und für ihren Gottesdienst die kostbaren Formen der römischen Liturgie, gestaltet von benediktinischen Händen, geboten hat. Eine Erscheinung der Gottesmutter, deren Hochfeste am 27. April und am 8. September in Montserrat gefeiert werden, haben den Grund zu einem besonderen, durch das ritterliche Ideal des Dienstes an einer hohen Frau inspirierten und innigen Mariendienst gelegt, dem sich die Knaben des im 14. Jahrhundert schon bestehenden Konvikts geweiht haben, welches Escolania genannt wird.

Ii den Statuten, welche der im Jahre 1493 gewählte Abt Garsias de Cisneros für die Escolania ausgearbeitet hat, die heute noch gültig sind, wird angeordnet: „Debent cantor quotidie“,Salve Regina' post Completorium aut gaudia Beatae Mariae“ — sie müssen täglich nach der Komplet das „Salve Regina“ oder die Freuden der Seligsten Jungfrau Maria singen. Einer von Abt Miquel Pujol im Jahre 1648 erlassenen Bestimmung gemäß haben die Sängerknaben täglich am Nachmittag den Rosenkranz zu beten (seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts wird dieser gesungen). Nach der in jenen Zeiten um fünf Uhr von den Mönchen rezitierten Komplet kehrten die „Escolans“ in die Kirche zurück — heute Ist es um ungefähr zwei Stunden später —, um „eis goigs, o un villancet a nostra Senyora“ zu singen.

Uber die „Goigs“, diese freudigen Gesänge des alten Katalanien, schreibt der große Gitarrist und Komponist Ferran Sor, der 1778 in Barcelona geboren und am Montserrat musikalisch ausgebildet wurde:

„Die Goigs, welche die Sängerknaben von Montserrat allabendlich singen, singen sie zu Ehren der Jungfrau. Sie bestehen aus einer Introduktion für eine oder zwei Stimmen, welche die Orgel beherrschend führt; die Bewegung ist lebhaft. Ein ein- beziehungsweise zweistimmiger Kehrreim wird zuerst von den Solisten gesungen und sodann vom ganzen Chor wiederholt. Hinzugefügt wird der Gesang der aus acht Versen bestehenden Strophen; die beiden letzten bilden den Kehrreim.

Dieser Aufbau gilt im wesentlichen auch für den „Villancet“, eine meist unter dem spanischen Namen „Villancico“ bekannte Form, welche in der Musikliteratur als spanische Motette, zuweilen auch als spanische Romanze bezeichnet wird. Alle diese vier- bis achtstimmigen Motetten stellen eine Huldigung vor, eine Anrufung oder auch eine Betrachtung, die in ein Gebet an Christus und Maria ausklingt, und zwar in den mannigfachsten Einkleidungen: Da gibt es zum Beispiel ein „Villancico“ der Bäuerin, welche, getragen von Glaube und Liebe, ruhig und sicher auf ihrem Feld einher-■chreitet, einen Aufruf an die Hirten, nach Bethlehem zum göttlichen Kind zu eilen, um es anzubeten, ein Reuebekenntnis, das eine Bitte um Vergebung beschließt, eine Apotheose der himmlischen Liebe, eine Klage um die Passion des Erlösers und, um eines der bekanntesten zu nennen, das Seemannslied „Ah, grumete ligero!“ — der flinke Schiffsjunge besteigt das Gnadenschiff, „dem die heftigsten Stürme nichts anhaben können, das mit Edelsteinen und Perlen beladen ist“ und das der Morgenröte entgegenfährt.

Die Musik und mit größter Wahrscheinlichkeit auch der Text dieser maritim-religiösen Romanze stammt von P. Joan Cererols, welcher die tragende Säule der kirchenmusikalischen Erziehung und Praxis des 17. Jahrhunderts darstellt, welche im 18. Jahrhundert von den Patres Anselmo Viola und Narctso Casanovas zur schönsten Blüte gebracht wurde. Beide waren Komponisten von hohem Rang und beiden muß zuerkannt werden, auf dem Gebiet der spanischen Kirchenmusik ein echtes Äquivalent zu den allbekannten und allgemein bewunderten Spitzenwerken der spanischen Architektur geschaffen zu haben.

A uf P. Violas Richtlinien für die Ausbildung der „Escolans“, •f der Sängerknaben, basiert auch heute noch das pädagogisch-musikalische Kunstwerk, das in der Escolania verwirklicht ist. In musikalisch-liturgischer sowie auch In religiösethischer Hinsicht von höchstem Rang und Wert ist diese Ausbildung, deren Ziel „der reine, religiöse Gesang, fern jeder Banalität und Sentimentalität“ ist, wie es P. Anselmo Viola formuliert hat. Die hohe Qualität dieser Knabenstimmen, die jeden faszinieren, dem es gegönnt ist, ihrem Gesang zu lauschen, wird nicht allein durch die gemeinsamen Gesangübungen und -proben erreicht; jedes Kind erhält nämlich Einzelunterricht und für alle obligat ist das Orgel- und Klavierstudium, das zu einer besonders feinen Gehörbildung zu führen vermag. Außerdem muß das Spiel mehrerer Instrumente erlernt werden, vor allem der Violine, des Cellos und der Flöte — hier entscheidet die Begabung und auch die Vorliebe des einzelnen Schülers. Obligat ist auch das Studium der Harmonie- und Formenlehre und der Musikgeschichte; alle müssen das Musikdiktat beherrschen und den gregorianischen „Cantus planus“ singen können, ebenso dirigieren und auf der Orgel in den verschiedenen Tonarten begleiten. „Quiro-nomia“ heißt die Kunst, aus dem Handgelenk den gregorianischen Choral zu dirigieren, und die besten Schüler werden dazu herangezogen, die Frühmesse der Sängerknaben zu dirigieren, welche immer einer der besten kleinen Schüler des Orgelfaches begleitet. Schallplatten, Tonbänder, Rundfunk und einschlägige Vorträge verschaffen den Knaben eine gründliche Kenntnis sowohl der Musifcliteratur als auch ihrer Hauptwerke; eifrig. studiert werden unter den Werken ausländischer Meister besonders jene von Bach, Händel und Haydn und außerdem die Kompositionen zeitgenössischer deutscher und französischer Meister.

Die Pflege der Vokal- und Instrumentalmusik aller Epochen und Stilarten sowie der Volksmusik ist durch ein besonderes Privileg dem montserratischen Konvikt gewährt worden und stellt einen besonderen Fall in der Geschichte der klösterlichen Musikpraxis dar. Eine wichtige Persönlichkeit in der Geschichte des Konvikts, Abt Aureli Escarrö, veranlaßt eine stärkere Heranziehung der Knaben zur Feier der Liturgie nach dem Vorbild der alten römischen „Scholae“; ihm ist auch die Einführung des mittägigen Gesanges der Antiphon „Salve Regina“ zu danken, die „Salve del mediodia“, welcher die ganze Liebe der gesamten Bevölkerung Kataloniens, des übrigen Spanien und aller Länder nicht nur Europas immer gegolten hat und noch heute gilt. Seit jeher sind auch unter den schwierigsten Verhältnissen die Menschen aller Länder immer nach Montserrat gepilgert und haben dort besondere Gnaden von der „Moreneta“, der „Schwarzen Muttergottes“ von Montserrat erbeten; alle, die von dem großen Erlebnis, das in irgendeiner Weise jedem zuteil wird, der das Bergkloster besucht, sei er auch noch so nüchtern und seelisch verschlossen, berichten, geben ihrer tiefen Ergriffenheit Ausdruck. Die Kraft und Weihe des herrlichen, im wahrsten Sinne sakralen Raumes der Abteikirche übt einen ebenso unwiderstehlichen Zauber auf die Besucher aus wie der den Sängerknaben ganz eigentümliche Schmelz und die für Knabenstimmen seltene Fülle und Leuchtkraft.

Auch Fachleute, wie die Sänger des berühmten „Coro Orfeö Catalanä“ von Barcelona haben gefühlt, daß hier etwas Besonderes vorliegt, das sich nicht nur durch die außergewöhnlich sorgfältige Stimmbildung, welche die Kinder genießen, und auch nicht durch ihr auf breitester Grundlage aufgebautes musikalisches Studium erklären läßt. „Es muß etwas mehr als all das sein“, sagten sie und ließen durchblicken, daß ihnen bewußt wurde, wie sehr das starke religiöse Fundament in der Erziehung der kleinen Sänger und ihr besonders inniges Verhältnis zur „Hohen Frau“, der sie als Pagen, als „Pages de la Virgen Morena“, dienen, auf eine deutlich fühlbare, wenn auch rational nicht erklärbare Weise sich in ihren Stimmen offenbart. Besonders im abendlichen Gesang des „Salve Regina“, welches die Knaben abwechselnd mit dem Mönchen singen, ist eine auf den Kontrast der Kinderstimmen mit den Stimmen der Mönche aufgebaute Wirkung zu fühlen, die einen beglückenden Reiz auf das Gemüt des Zuhörers ausübt.

Es ist klar, daß die sangeskundigen Pilger, besonders die Herren und Damen der verschiedenen Gesangsvereinigungen, namentlich solcher, die sich der Pflege der kirchlichen Vokalmusik widmen, diesen Gesang hoch zu schätzen wissen und auch die wesentlichen Elemente desselben erfassen. Aber die große Menge der Reisenden oder jener, welche allein eine rein religiöse Pilgerfahrt zum Gnadenbild der Schwarzen Muttergottes unternehmen und vielleicht keinerlei musikalische Schulung genossen haben, erklären immer wieder mit leuchtenden Augen: „Schön war es, unglaublich und unwiderstehlich schön! Man hat gemeint, die Engel singen zu hören.“ Sie haben recht. Fragt man jedoch viele von ihnen, um die berühmte Frage, die der weise alte Gralshüter Gurnemanz dem jungen Parsifal gestellt hat, zu variieren: „Weißt du auch, was du hörtest?“, so bekommt man fast nie eine Antwort, die auf ein musikalisch fundiertes Verständnis schließen läßt, jedoch von hoher Begeisterung und Ergriffenheit zeugt. Das ist wohl das Wesentliche, die Hauptsache, auf die es im Menschenleben ankommt.

Die Ergriffenheit, die Ignatius von Loyola nach einer langen, durch seine schwere Verwundung besonders schmerzlichen Wanderung vor dem Bild der Gnadenmutter von Montserrat empfunden hat, war so stark, daß er seinen Degen vor der Marienstatue des Sanctuariums zog, um diesen auf die Stufen, die zu derselben hinaufführen, zu legen, um sich auf immer von seiner Waffe, die ihm nicht nur Schutz, sondern Symbol war, zu trennen. Irgendwie ähnlich ergeht es jedem, der in diesem Heiligtum gekniet hat; für die meisten Menschen ist das Erlebnis, das ihnen auf dem Montserrat in seiner übermächtigen Synthese von wunderbar gestalteter Liturgie, von erlesenster Musik und von undefinierbarem, aber unleugbarem Zauber zuteil wurde, zu etwas geworden, das zu ihrem ureigensten inneren Besitz geworden ist. Es ist das, was wohl von allen, mehr oder minder klar bewußt, empfunden wird: das Geheimnis von Montserrat

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