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Kirchenmusik — ohne Kirche

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Nach hemmenden Kriegsjahren nimmt die Wiener Kh-chenimusik wieder neuen Aufschwung. Es sind aller Orten Kräfte am Werk, die mit bestem Willen ihre Tätigkeit wieder begonnen haben. Instrumentalmessen mit großer, mit kleiner Besetzung, Werke des A-cappella-Stils, Orgelmessen, kirchliche Aufführungen außerliturgischen Charakters, alle diese Einzelheiten ergeben ein Bild hohen beruftstätigen Strebens, das voll anerkannt werden muß. Es verdient um so mehr Anerkennung, als die Schwierigkeiten, unter denen hier musiziert wird, ganz besonders große sind und von allen Beteiligten ein gerütteltes Maß von gutem Willen und Opfermut verlangen.

Aber gerade deshalb, weil ein so sichtbares Wachstum festzustellen ist, darf man nicht blind sein gegen manches, das da trotz allem noch Wünsche unerfüllt läßt. Diese Musik erklingt in der Kirche oft mit recht großem Aufwand an Mitteln, aber sie zeigt bei alledem nicht, daß sie ganz zur Kirche gehört, sie. ist „Kirchenmusik ohne Kirche“.

Das ist der Fall, wenn ein musikalisches Hochamt ohne gesungenes Proprium bleibt. Das ist Nachlässigkeit der Liturgie gegenüber; sie kann unter _ Umständen auch „Traditionsverbundenheit“ genannt werden, das ändert aber nichts an ihrem Wesen.

Als Ausgangspunkt sei eine Stelle des Motu proprio Pius X. in Erinnerung gebracht. Darin heißt es in der „Anweisung über die Kirchenmusik“, Teil III, „Der liturgische Text“, Abschnitt 8: „Für jede liturgische Funktion sind die zu singenden Texte und die Aufeinanderfolge derselben genau festgelegt. Es ist daher nicht erlaubt, diese Ordnung umzukehren, noch auch die vorgeschriebenen Texte nach eigener Wahl -zu ändern, sie ganz oder auch nur teilweise auszulassen.“ Das heißt, daß bei jedem Hochamt auch die Texte von Introitus, Graduale, Offertorium und Communio musikalisch wiederzugeben sind. Das Gegenteil ist beider oft der Fall: Man bekommt sie in manchen Kirchen überhaupt nicht zu hören, vor allem nicht Introitus und Communio. Dies ist aber sehr bedauerlich

Die aufgerührte Meßkomposition mag noch so schön sein, sie kann den Charakter des betreffenden Festes nicht eindeutig wiedergeben, wenn auch • manche der Kompositionen für diesen oder jenen Festkreis besonders geeignet erscheinen, wie etwa die weihnachtlichen Pastoralmessen. Ob man die Theresdenmesse Haydns zu Weihnachten oder zm Pfingsten aufführt, das bleibt sich gleich: sie' ist immer Haydn und kann nicht das eine Mal Weihnachtlich und das andere Mal pfingstlich sein sie will es auch gar nicht sein. Das liegt schon im Wesen des ständig gleichbleibenden Ordinarium Missae. Da kann nur subjektive Auffassung und subjektives, künstlerisches Können eine Abwechslung schaffen. Wenn nun das Proprium vernachlässigt wird dann geht der eigentliche Sinn des F e s t o f-fiziums verloren.

Das sollte man sich immer vor Augen halten: die Liturgie der katholischen Kirche ist nicht nur in ihren einzelnen Funktionen, sondern auch im Ablauf der Zeiten ein Gesamtkunstwerk; noch dazu ein solches, das nicht' auf plötzliche Anordnung entstand, sondern in jahrhundertelangem Wachstum ein organisches Ganzes wurde. Vernachlässigt man auch nur einen ihrer Teile, so entsteht eine wesentliche Lücke. Sie ist wesentlich deshalb, weil damit n i c h t nur kirchliche Vorschriften, sondern auch künstlerische Forderungen verletzt werden. Dafür scheint mancherorts das Feingefühl verloren gegangen zu sein. Unser Volk wird dankenswerter Weise jetzt seit Jahren zur Liturgie erzogen, wird mit den Betsing-

messen, den liturgischen Abenden, in dieses Kunstwerk einbezogen. Wenn dann die Kirchenmusik ihre Kunst zur Verherrlichung des Gottesdienstes darbringt und dabei die liturgischen Notwendigkeiten vollkommen übersieht, sie direkt außer acht läßt, dann ist das durchaus nicht in Ordnung.

Ein musikalisches Hochamt, vielleicht einige Zeit vorher auch angekündigt, beginnt meist mit hörbarem Stimmen der Instrumente und, sonstigen vorbereitenden Geräuschen. Auf das Altarzeichen folgt gelegentlich langmächtiges Orgelspiel und dann gleich das Kyrie. Der Introitus ist damit unter den Tisch gefallen. Am Schluß geht es in umgekehrter Reihenfolge ähnlich. Dem Agnus Dei folgt sofort das Schlußgebet, für die Communio ist keine Zeit geblieben, da hört man vielleicht auch schon Sänger und Instrumentalisten weggehen und was vom Hochamt bleibt, ist Unruhe und das etwas peinliche Gefühl, daß es trotz gutem Willen und aller Anstrengung nicht vollendet gewesen ist.

Es sei einmal erlaubt, ohne Nennung von Kirchenchören, bei denen dies vorkommt, festzustellen, daß solches in Wien möglich

ist. Man kann auch zu Pfingsten das Graduale vom Ostersonntag hören oder etliche Zeit vor Christi Himmelfahrt das Graduale dieses Offiziums, was ja vollkommen sinnwidrig ist. Als einst ein Sänger des betreffenden Chores darauf aufmerksam gemacht wurde, meinte er, das Publikum merke das ohnedies nicht. Es hat sich manches geändert: Das Publikum, will sagen, der anwesende Beter, merkt es wohl, denn er liest ja aus seinem Missale einen anderen

Die Wiener Kirchenmusik steht hier vor einer dringenden, aber auch lohnenden Aufgabe. Choral zu studieren ist nicht jedermanns Sache, aber eine wenn auch einfache und würdige Ausführung des Propriums muß trotz aller Schwierigkeiten einmal zur Wirklichkeit werden bei jedem Hochamt, das in Wien gesungen wird. Beide Teile, Altar und Chor müssen da einander helfen. Wenn die Musik ihre Gabe zum Altar bringt, dann soll die$e auch recht sein und s o recht sein, daß der Altar sie zur Gänze annehmen kann.

Es wird Sache der Praxis sein, hier Wege und Mittel zu finden. Ansätze dazu sind vorhanden, wie etwa die Veröffentlichungen der Wiener Diözesankommission für Kirchenmusik, die Choralproprien betreffend, oder die von Maurus Hönigsberger herausgegebenen „Kirchenmusikalischen Werkhefte“, deren Fortsetzung dringend erwünscht wäre. Das beginnende 16. Jahrhundert hatte in Heinrich Isaacs „Choralis Constantinus“ seine Propriensammlurig, dem Jacobus Gallus mit seinem „Opus musicum“ (erschienen 1586 bis 1590) ein Motettenwerk an die Seite stellte. Die unliturgische Gewohnheit der Aufführung von Instrumentalstucken an Stelle des Graduale wie im Salzburger Dom — noch Mozart hatte dafür Kirchensonaten geschrieben —, wurde durch Michael Haydns Gradualien und Offertorien richtiggestellt. Dieser hat damit jene lange Reihe gleichartiger Kompo-

sitionen eröffnet, die bis heute mit manch unterschiedlichem Wert andauert. Unser Jahrhundert hat mit den Proprienzyklen von Alfons Schlögl, Salzburg, einen Beitrag zur Lösung dieser Frage geliefert. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang jene Meßkompositionen, die, einem bestimmten Fest zugedacht, dessen Proprium mitkomponieren, wie etwa die Weihnachts- und Ostermesse von Max Springer.

Die kirchenmusikalische Zukunft Wiens kann und darf dieser Angelegenheit nicht tatenlos zusehen, trotz aller Schwierigkeiten von Komposition, Drucklegung und Aufführung. Es steht ihr Ansehen dabei auf dem Spiel, ganz_ zu schweigen davon, daß mit solcher Nachlässigkeit dem religiösen Leben unserer Tage und seinem oft keimhaften Beginnen nicht geringer Schaden zugefügt werden kann. Man lese in der „Furche“ vom 9. März die Ausführungen „Vom Rande des Weges“, in denen es unter anderem heißt: „Vom gläubigen Laien erwarten wir, daß er uns ein Beispiel als Christ der Tat gibt“, und man wird vielleicht erkennen, wie wichtig es ist, daß ein Regenschori ganz gewissenhaft seine Pflicht tut. Nicht nur er, sondern auch seine Chor-mdtglieder müssen der Musica sacra gegenüber Ton hoher Verantwortung durchdrungen sein.

Es ist richtig, Schwierigkeiten gibt es genug; die sind aber überall auf der Welt und von Goethe stammt das treffende

Wort: „Gott gibt die Nüsse, aber — er beißt sie nicht auf“.

Die Bewältigung des Propriums besteht bei einfachster Lösung in tadellosem Rezitieren der Texte. Wo etwas weiter gearbeitet wird, dort stehen die Psalmtöne zur Verfügung. Die Schwierigkeit der lateinischen Sprache sollte eigentlich kein Hindernis mehr sein, seit das Schottsche. Meßbuch in der Welt ist. Wortbetonung und Sinnerklärung wäre eine dankenswerte Mithilfe des Klerus auf dem Gebiet der Kirchenmusik im Hinblick auf die theologisch-liturgischen Grundlagen des Gottesdienstes. Musikalisch-stilistische Bedenken werden nicht immer so glänzend gelöst werden können, wie bei jenem Hochamt in der Annakirche, zu dem Dr. Ernst T i 11 e 1 die Einlagen stilgetreu hinzukomponierte. Eines aber ist sicher: Tadellos gesprochenes, einfaches Rezitieren ist immer noch besser als überhaupt nichts.

Die einfache Betsingmesse mit gelesenem Proprium samt Epistel, Evangelium und Kirchenliedern, von jungen, frischen Stimmen mitten aus dem Kirchenraum heraus tadellos gesungen, wie etwa in der Altlerche n-felderkirche, kann so zu ungleich tieferem liturgischem Erlebnis werden als ein großes, musikalisches Hochamt, dem von Seite der Musik her das liturgische Antlitz, das Proprium, fehlt. Das ist „Kirchenmusik *• ohne Kirche“, ohne den Geist der Kirche. Das sollte aber gerade im katholischen Wien nicht sein.

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