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Die Erfindung der musikalischen Isotope
Unter den Künsten war es meist die Musik, die als letzte zur zeitgemäßen Ausdrucksform einer neuen Epoche fand. War in der europäischen Agrargesellschaft der gemeinsame menschliche Gesang zum Lob der Schöpfung notwendigerweise in fünf- oder siebenstufigen Tonskalen gehalten, die von Gehör und Stimmumfang bevorzugt wurden, so wandelte sich in der bürger-
liehen Handwerkergesellschaft mit ihrer Instrumentalmusik das Tonsystem konsequent hin zur zwölf-•tönigen Leiter.
Im sakralen Raum war einst liturgisch die Instrumentalmusik geächtet, heute scheinen vor allem kommerzielle Gründe (zumindest in Österreich) die musikalische Entwicklung zu prägen. Zum Unterschied früherer musikalischer Medien (der menschlichen Stimme und dem Orchester) haben jedoch die technischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts: Schallplatte, Tonband, Film, TV, Video, CD und DAT bisher nicht zur Entwicklung
der ihnen adäquaten Musik geführt. Man beschränkte sich auf Konservierung, Imitation und Vervielfältigung tradierter Live-Musik. Ansätze zur Entwicklung einer Musiksprache, die diesen Klangquellen ebenso typisch entspricht, wurden bisher nicht wahrgenommen.
In diesem Zusammenhang ist von einem österreichischen Komponistenschicksal zu berichten. Im Jahr 1989 starb Franz Richter Herf, Komponist ekmelisch-mikrotonaler Musik. Heuer wird die von ihm gegründete „ Gesellschaft für ekme-lische Musik" ihren zehnjährigen Bestand feiern. Mikrotonale Ekme-lik stellt heute die wichtigste Erscheinungsform musikalischer Avantgarde dar. Durch ihre verfeinerte Intonation mit über 70 Tonstufen je Oktave eröffnet sie - nach teilweise historischen Vorbildern -der Musik neue Dimensionen.
Mikrotonale Musik ist schwer zu notieren und noch schwerer zu lesen, da es anstelle jedes einzelnen Tones nun mehrere „Isotope" unterschiedlicher Frequenz gibt. Eine ähnliche Verfeinerung fand zuletzt im Bereich der Rhythmik statt, als der Jazz sich durchzusetzen begann. Auch dabei spielten die damals
modernsten Tonträgeraufnahmen eine entscheidende Rolle für die Aufzeichnung und Vermittlung.
Wie es scheint, haben aber Österreichs Musikverlage und Musikindustrie ihren Vorsprung zehn Jahre lang verschlafen. Der Komponist Richter Herf wurde Hochschullehrer und Rektor des Salzburger Mozarteums, was die kompositorische Forschungsarbeit ebenso benindert hat wie ihm die Unterstützung bei der Entwicklung mikrotonal ekme-lischer Instrumente fehlte.
Da Revolutionen in Österreich unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, gab es vor einiger Zeit ein Konzert mit ekmelisch-mikrotonaler Musik im Wiener Museum des 20. Jahrhunderts, das dann in Preßburg und Moskau erfolgreich wiederholt wurde. Das „Österreichische Ensemble für Neue Musik" leistete unter der Leitung von Herbert Grass Präzisionsarbeit. Besonders Franz Richter Herfs .Paraku-sis' und Johannes Kotschys .Crystal Sonata' lösten mit ihren ekmeli-schen Feinstufenmelodien und nuancenreichen Akkorden bei den faszinierten Hörern Wohlgefallen aus. Anderes klang akademisch bis mißlungen, jedenfalls aber nicht
geschaffen für Disco-geschädigte Ohren, die Dur von Moll nicht mehr unterscheiden können.
Sollten Komponisten von Tonträgerfirmen ausreichend unterstützt werden, kann diese Musik auch durch Tonträgeraufnahmen rasch populär werden. Vielleicht werden inzwischen andere Kulturen diesen Erfolg dem „Musikland Österreich" aus der Hand nehmen. Mikrotonale Musik trägt jedenfalls weiter zu einem erhöhten Mechanisierungsgrad durch digitale Produktion bei. Damit wird aber für den Hörer der Unterschied deutlich, der zwischen Tonträgermusik (mit ihren nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zu feinster Differenzierung) einerseits und traditioneller Live-Musik andererseits besteht. Und diese Unterscheidung würde beide Musikformen aus ihrer fatalen Konkurrenzsituation befreien. Sollten dann mikrotonale Digitalaufnahmen auch Live-Musiker anregen, wie dies einst bei Jazz-Aufnahmen der Fall war, dann liegt eine interessante musikalische Epoche vor uns.
Der Autor ist Komponist und beschäftigt sich mit einer neuen, melodischen Form von Zwölftonmusik.
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