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Vor 1000 Jahren

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Heute gilt es als selbstverständlich, Musik in höchster Vollendung unter die Künste einzureihen; aber jeder weiß, daß die Beherrschung der Spieltechnik eines Instrumentes oder der Tonbildung im Gesang erlernbar ist und lange geübt werden muß, bis einer mit Joseph Haydn, Doktor der Tonkunst, sagen darf: „Diese Sprache versteht man in der ganzen Welt.“ — Es ist auch bezeichnend, daß man einen Unterschied macht zwischen Liebhabermusikanten, fachlich geschulten Musikern und Komponisten, den begnadeten Schöpfern der Tonkunst, was ungefähr den Stufen vom Handwerk über Kunsthandwerk zur reinen Kunst entspricht.

Es gab aber eine Zeit, in der Musik nicht als Kunst, sondern als Wissenschaft galt, wissenschaftlich betrieben und gewertet wurde, als Pflichtfach in den Schulen gelehrt, doch nicht erlernt wurde. Den Schülern blieb es damals überlassen, Spielweise von Instrumenten und Singen selber zu erlernen und zu pflegen; in einer Musikstunde wurde über Töne und Instrumente nur geredet.

Eine Lektion Musik vor 1OOO Jahren war wesentlich anders als eine Klavier- oder Gesangstunde für unsere heutigen Schüler, wie eine Szene aus dem Drama „Paphnutius" der Roswitha (= Hrothsuid) von Gandersheim beweist. Der Name dieser gelehrten Nonne, die zur Zeit des Werdens der althochdeutschen Sprache lebte, steht in jeder Literaturgeschichte; als früheste deutsche Dichterin wurde sie wegen ihrer ungewöhnlichen allgemeinen Bildung ebenso geachtet und gerühmt wie als Verfasserin von Legenden, Erzählungen, Epen und Dramen, die sie in den Jahren 960 bis 970 schrieb. Unter diesen bringen „Paphnutius“ und „Sapientia" Szenen, die uns heute einen lebendigen Eindruck des Unterrichts in Klosterschulen vermitteln. Die folgende, von der Dichterin erlebte oder von ihr als Zeitausdruck gedichtete Musikstunde ist ein Zwiegespräch zwischen Schülern und Lehrer, für die Musik- und Kulturgeschichte aber auch die heutige Naturwissenschaft gleich beachtenswert.

Schüler: Was ist eigentlich die Musik?

Lehrer: Ein Zweig des philosophischen Qua- driviums.

Schüler: Quadrivium? Was nennst du so?

Lehrer: Die Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie.

Schüler: Worüber handelt die Musik?

Lehrer: Sie beschäftigt sich mit Tönen . .. Drei Arten macht man von ihr namhaft. Die eine heißt die himmlische Musik, die andere die Musik der Menschen, die dritte endlich wird von den Instrumenten ausgeführt.

Schüler: Und worin besteht die himmlische Musik?

Lehrer: In den sieben Wandelsternen und in dem Gesang der Sphären Sie entsteht auf gleiche Weise wie die Musik der Instrumente. Denn soviel Intervalle, wie in den Saiten sind, finden wir auch an jenen Himmelskörpern, dazu die gleichen Stufen und dieselben Konsonanzen.

Schüler: Erklingen denn die Sphären und die Planeten im Weltgesang, daß du sie mit Saiten vergleichen darfst?

Lehrer: Der stärkste unter allen ist ihr Klang. Schüler: Und warum wird er nicht gehört?

Lehrer: Auf manche Art wird das erklärt: Die einen sagen, weil er unablässig tönt, sei unser Ohr des Klanges so gewöhnt, daß er

uns gar nickt zum Bewußtsein komme; die anderen legen es der allzu dichten Luft zur Last; noch andere bringen vor, daß unser Ohr viel zu klein ist, den gewaltigen Klang zu fassen; auch gibt es welche, die meinen, so süß und herrlich sei der Sphären Klang, daß alle Menschen, wenn er ihnen hörbar würde, so Haus wie Hof und ihr Geschäft verließen, nur um dem süßen Klang nachzufolgen vom Auf gang bis zum Niedergang. Schüler: Dann ist es freilich besser, daß wir nichts davon hören.

Lehrer: Unser Schöpfer hat das wohl vorausgesehen.

Schüler: wir höreten noch gerne von der Musik des Menschen.

Lehrer: Und was am liebsten?

Schüler: Worinnen sie sich offenbart.

Lehrer: Nicht allein im Zusammenklang von

Leib und Seele, noch in den Tönen unserer Kehle, den hohen und den tiefen, nein, auch im Pulsschlag unserer Adern und in dem Ebenmaß der Glieder erscheint das einfache 'Verhältnis wieder, das ich in den Akkorden euch zeige. Harmonisch sind die Finger uns gegliedert; das ist Musik, denn diesen Namen führt nicht allein der Töne, sondern aller ungleichen Dinge Harmonie Doch das sind Anfangsgründe, ist nur ein armer Tropfen, der dem vollen Becker der Gelehrsamkeit entfloß Ich fing ihn auf, um ihn mit euch zu teilen

Beim ersten Blick scheint diese kuriose Musikstunde kindlich naiv, sie ist es aber nicht. Statt Musik im heutigen Sinn hören wir eben ein Kapitel wissenschaftlicher Physik (Akustik), gestützt auf gute alte Beobachtungen an schwingenden Saiten und die mathematisch faßbaren Zusammenhänge zwischen Saitenlängen, Tonhöhen, Schwingungszahlen, Akkorden, Klängen usw. Auch die astrologischastronomische Idee, daß bewegte Planeten klingen, ist altes Wissensgut, das noch Goethe zu den Versen inspirieren konnte: „Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang und ihre vorgeschriebene Reise vollendet sie mit Donnergang.“ Nach neuen Beobachtungen soll die Sonne außer Licht und Wärme noch andere periodische Schwingungen ausstrahlen, die für uns unhörbar, doch radiometrisch nachweisbar sind. Die Harmonie der himmlischen Musik in der Planetenbewegung haben Jahrhunderte später. Galilei, Kepler und Newton, ein leuchtendes, älles überstrahlendes Dreigestirn, in Gesetzen und Zahlen ausgedrückt und ebenso zur Ehre Gottes gepriesen, wie der Lehrer im „Paph- nutius". Die großzügige Verallgemeinerung des Begriffes Harmonie mutet ganz modern an. Harmonie, gleichgültig, ob als Ausdruck eines schöpferischen Prinzipes oder als Naturgesetz genommen, verwandelt jedes Chaos zum Kosmos und ist nicht nur dort, wo bestimmte Proportionen aller Teile ein gefälliges Ganzes bilden. Harmonie bedeutet immer und überall Ordnung in Zuständen und Vorgängen, ein räumliches Zusammenpassen und Wirken von Einzelheiten mit einem gesteuerten Ablauf von Vorgängen im Ganzen und aller Teilprozesse.

Die von Gott vorgesehene „Unhörbarkeit der Himmelsmusik“ ist Ausdruck der Theologie und frühmittelalterlicher Denkweise, für die jede Verherrlichung des Weltschöpfers Gebot war. Der Philosophie ging es um Begriffe mit schärfsten Definitionen, nicht um sinnfällige Erscheinungen in der körperlichen Welt. Map spekulierte daher über Töne „an sich“ und nicht über Lieder oder kunstvoll gebaute Kompositionen.

Selbst Komponisten galten nur als „Diener ihrer Instrumente“, wenn sie nur aus Lust und Liebe triebhaft in wissenschaftlichem Forscherdrang Tonwerke „anfertigten". Nur wer Klänge, Rhythmen und Melodien „philosophisch abwägen“ konnte, würde zum „Wesen" der Musik vordringen. Um das zu beweisen, pflegte man eine oft bewundernswerte Dialektik bis zur Spitzfindigkeit und betrieb eine Zahlen

mystik der Töne, von der unsere heutige Naturwissenschaft nur Zahlen ohne Mystik übrig ließ.

Es hat. sich viel seither geändert. Die einst nur in Klosterschulen gelehrte Musik war in praxi Kirchenmusik zur Verschönerung des Gottesdienstes, deshalb dachte kein Musiker daran, nach Art unserer heutigen Stars alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Alle Musiker waren Diener am Werk, Komponisten waren bekannt, gefördert und gewürdigt, der Nachschaffende, später regens chori genannte musikalische Leiter beanspruchte nicht mehr Verdienst, als ihm, verglichen mit dem Werk des Komponisten, gebührte. Freiwillige Ein- und Unterordnung waren selbstverständlich; krankhafte Eitelkeit und Geltungssucht gab es nicht; aber man rang wie heute nach neuen Ausdrucksformen.

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