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Die musikalische Bildung unserer Jugend

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Neben den drängenden Tagesfragen und den wichtigen innenpolitischen Entscheidungen scheint das Problem der musischen Erziehung unserer Mittelschuljugend in den Hintergrund getreten zh sein, obgleich es für die Zukunft unseres Volkes von nicht geringerer Bedeutung ist.

Bekanntlich wurden die musischen Fächer Musik und Kunsterziehung an Mittelschulen in der Weise eingeschränkt, daß sie von der fünften Klasse an wahlfrei sind, während sie bisher bis zur siebenten Klasse obligat geführt wurden und die Teilung erst in dieser Klasse erfolgte. Ob mit dieser Maßnahme, die im Sinne einer Entlastung der Schüler gedacht war, der Jugend ein Dienst erwiesen wurde, muß sehr bezweifelt werden, da ein wesentliches Element der Allgemeinbildung, die die Mittelschule vermitteln soll, zum Teil ausgeschaltet wird.

Musikalische Bildung im weitesten Sinne ist die Fähigkeit, an der abendländischen Musikkultur teilzunehmen. Da Literatur, bildende Kunst und Musik in der Kultursubstanz eine Einheit bilden und die Kenntnis der Literatur als ein Teil der Allgemeinbildung betrachtet wird, muß auch die Musik dazugehören. In ihren spezielleren Formen der aktiven Teilnahme wird sie gewiß einer beschränkten Anzahl von Menschen vorbehalten sein, die jedoch im Interesse der musikalischen Kultur möglichst hoch sein soll. Eine musikalische Bildung im Sinne des Musikverstehens ist auch durchaus möglich; denn „unmusikalisch“, das heißt musikunempfindlich, sind etwa zwei Prozent der Menschen. Alle übrigen können durch Schulung dazu geführt werden, in jenem allgemeinen Sinne am Kunstleben eines Volkes teilzunehmen. Da Aufgeschlossenheit für die Musik mit einer inneren Bereicherung verbunden ist, muß eine allgemeine musikalische Bildung erstrebenswert, ja notwendig sein. Der „Gebildete“ von gestern konnte auf musikalischem Gebiet völlig unwissend sein, ohne daß dies von ihm selbst oder von seiner Umgebung als Bildungsmangel empfunden worden wäre. Als er die Mittelschule besuchte, gab es nur einen Gegenstand, „Gesang“, der neben den „Hauptgegenständen“ ein kümmerliches Dasein fristete und nichts von dem bot, was für eine musikalische Bildung von Wert wäre. Wie hätte man auch Elf- bis Vierzehnjährigen die hohen Werte der Musik und der bildenden Kunst vermitteln wollen? So mußte die Erziehung zum Kunstwerk in die Oberstufe verlegt werden. Es entspricht aber nun einmal „guter, alter“ Schultradition, in der Musik immer etwas Zweitrangiges zu sehen, obgleich sich in den letzten Jahrzehnten vieles geändert hat. Andere wieder halten die Musik für ein schweres wissenschaftliches Fach, das ein Spezialwissen vermitteln will.

Wenn Ueberlastungen und Ueberforderungen der Schüler in den anderen Fächern gleich zur Einschränkung oder Streichung des betreffenden Faches geführt hätten, so müßten wohl die meisten Fächer davon betroffen sein. Man darf die Uebergriffe einzelner Musikerzieher in ihrem Fach nicht für „den“ Musikunterricht halten. Zur Behauptung, der Musikunterricht an Mittelschulen vermittle ein Spezialwissen, sei die Frage erlaubt, was „spezieller“ ist: Integralrechnung oder die Kenntnis der bedeutendsten Werke der Tonkunst.

Ein weiterer Einwand gegen eine allgemeine Musikerziehung besteht darin, zu behaupten, daß Musik wesentlich von Begabung abhängt und daher nicht allgemein verbindlich gemacht werden könne. Bekanntlich gibt es auch sprachlich und mathematisch unbegabte Schüler, Hat man je verlangt, daß Sprachen nur die sprachbegabten, Mathematik nur die mathematisch begabten Schüler lernen sollen? Für die Musikerziehung an Mittelschulen ergibt sich daraus die Notwendigkeit, ihre Zielsetzung in Einklang zu bringen mit den Grenzen einer allgemeinen musikalischen Bildung. Begabung darf nicht Maßstab der Beurteilung sein. Musik ist weder eine Fertigkeit noch ein wissenschaftliches Fach; sie ist ein Erlebnis- und Bildungsfach von hohem erzieherischen Wert. Sie ist aber auch keine bloße „gelenkte Freizeitgestaltung“, denn sie erfordert Konzentration und Vertiefung. Eigene Betätigung in der Form von Singen und Musizieren ist vor allem in der Unterstufe Ausgangspunkt für das Eindringen in Formen und Gehalt der Musik. Die notwendigen theoretischen Grundlagen werden nicht neben der praktischen Betätigung, sondern aus ihr erarbeitet. Die Erziehung zum bewußten Musikhören beginnt schon in den untersten Klassen an Hand von „leichten Musikbeispielen. Auf der Oberstufe werden die Schüler mit den schwierigeren Formen vertraut: Sonate, Symphonie, Oper, Oratorium, Instrumentalkonzert, kontrapunktische Formen, immer vom erlebten Musikbeispiel aus. Zusammenhängende Musikgeschichte wird nur insofern betrieben, als in gewissen Abständen das erworbene Musikwissen in einem Ueberblick zusammengefaßt wird. Kann ein solcher Musikunterricht die Schüler überlasten? Im Gegenteil! Nach einer anstrengenden Latein- und Mathematikstunde empfinden sie die Musikstunde als notwendigen Ausgleich gegen die einseitig intellektuell betonten Wissensfächer. Die Musik gehört zu jenen Fächern, in denen der seelische Kontakt zwischen Lehrer und Schüler besonders innig ist. Darum soll der Musikerzieher in gleicher Weise Künstler und Pädagoge sein. Alle modernen Hilfsmittel, wie Rundfunk, Schallplatte, Tonband, Musikfilm, sollen in den Dienst des Musikunterrichtes gestellt werden. Lebensnah soll der Musikunterricht sein: Aktuelle Ereignisse im Musikleben, hervorragende Interpreten, musikalische Erlebnisse einzelner Schüler oder der Klassengemeinschaft (gemeinsame Konzert- und Opernbesuche) bieten hervorragendes Unterrichtsmaterial, das die Schüler mit dem Leben verbindet. Wenn der Musikerzieher so seine ganze Persönlichkeit in den Dienst der musikalischen Erziehungsarbeit stellt, wird der Erfolg nicht ausbleiben.

Von den vielfältigen und fruchtbaren Beziehungen, die von der Musik zu fast allen Unterrichtsfächern ausgehen, sollen hier nur diejenigen angedeutet werden, die zum Fache Deutsch als dem der Musik verwandtesten Fache bestehen. Ausspracheübungen im Musikunterricht kommen dem Deutschunterricht zugute. Die Lieder und Balladen, die textlich im Deutschunterricht erarbeitet werden, kommen im Musikunterricht zum Erklingen. Besonders fruchtbar ist das Zusammenwirken der beiden Fächer auf der Oberstufe. Die Dichtungen Goethes, Eichendorffs, Mörikes offenbaren sich in den Vertonungen von Schubert, Robert Schumann, Hugo Wolf erst in ihrer ganzen Schönheit. Die Ausführungen des Deutschlehrers über die Entwicklung der Oper werden im Musikunterricht erlebnismäßig unterbaut. Die Begriffe „Barock“, „Klassik“. „Romantik“, „Impressionismus“, „Expressionismus“ können nur durch Heianziehung der Musik voll erfaßt werden. In der Abschlußklasse soll eine Zusammenschau aller Geistesgebiete geboten werden, die das ganze Mittelschulstudium zu einem krönenden Abschluß führt. Wie kann dies geschehen, wenn in diesem Ueberblick die Musik fehlt?

Unsere Musikerziehung an Mittelschulen muß verstanden werden als Kampf gegen Schmutz und Schund auf musikalischer Ebene. Nicht daß wir der Jugend die Freude am beschwingten Rhythmus nehmen wollen durch Wettern gegen die Jazzmusik. Wir müssen ihr auch diese Gattung der Musik in ihren ethnologischen und psychologischen Wurzeln zeigen und in ihrem Einfluß auf das zeitgenössische Musikschaffen. Gefährlich jedoch ist die gewisse „JaA b e s e s s e n h e i t“, zu der unsere Jugend neigt, und die durch den Rundfunk und die Schallplattenproduktion reiche Nahrung erhält.

Das wirksamste Mittel dagegen ist die Erziehung zu den wahren Werten der Tonkunst. Derjenige Jugendliche, der sich einmal für Beethovens „Fünfte“ begeistert hat, wird der Jazzmusik nicht mehr so verfallen sein, wie er es ohne die Kenntnis jenes Werkes wäre. Er wird den Abstand erkennen, der beide Gattungen der Musik voneinander trennt. Dazu ist allerdings eine gewisse geistige Reife nötig; die kann man nur bei dem Schüler der Oberstufe voraussetzen. Nach der neuen Verfügung jedoch ist ein Teil der Schüler den schädigenden Einflüssen der musikalischen Kitschproduktion hemmungslos ausgeliefert, und die Urheber jener Verfügung werden dem Vorwurf nicht entgehen können, dazu beigetragen zu haben.

Bedauerlich ist es, daß gerade jene Kreise, die den Kampf gegen Schmutz und Schund auf literarischem Gebiet so tatkräftig führen, dem musikalischen Schund durch ihre Verfügungen Tür und Tor öffnen.

Sosehr die Bestrebungen zu begrüßen sind, Lehrstoff und Lehrfächer zu sichten, so darf dies nicht auf Kosten der Erziehungswerte gehen, welche die Schule der Jugend vermittelt, und nicht auf Kosten des musikalischen Ansehens Oesterreichs. Die Entlastung müßte dort beginnen, wo eine wirkliche Ueberlastung besteht, statt in die Richtung des „geringsten Widerstandes“ zu gehen. Die Musikerzieherschaft und die Elternschaft Oesterreichs muß im Interesse der Jugend die Beibehaltung des Musikunterrichtes fordern. Es ist aber auch dafür zu sorgen, daß der Musikunterricht die Schüler weder überlastet noch überfordert; daß er ihnen zu einer Quelle der Freude werde und dem Vaterlande die Grundlage biete für seine musikalische Weltgeltung.

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