6698601-1963_18_05.jpg
Digital In Arbeit

Der Deutschlehrer ist zufrieden

Werbung
Werbung
Werbung

Überrascht und beglückt zugleich waren die Deutschlehrer der Mittelschulen, als sie in den neuen Lehrplanentwurf * Einblick erhielten. Denn endlich einmal sprach man nicht nur davon, daß der Unterricht in der Muttersprache die selbstverständliche Grundlage jeder Bildung darstelle, sondern man trug dieser Erkenntnis auch Rechnung. Dem Germanisten steht nun für die siebente, achte und neunte Schulstufe mehr Zeit zur Verfügung, damit er in größerem Ausmaß als bisher den Anforderungen der Gegenwart in Sprache und Literatur gerecht werden könne: eine hohe Verpflichtung — eine schöne Aufgabe!

Die Unterstufe weist nur eine geringe Änderung auf: Die Stundentafel zeigt eine Verminderung um eine Wochenstunde in der zweiten Klasse. Nach wie vor ruht das Hauptgewicht auf der Sprech- und Sprachschulung, der Erlernung, Festigung und Vertiefung der grammatikalischen und orthographischen Kenntnisse sowie der richtigen Handhabung der Satzzeichensetzung. Von dieser Sicht aus soll der Deutschunterricht ja — voll berechtigt

— eine Vorbereitung und Vorschulung für die Bekanntschaft mit den Fremdsprachen, vor allem für Latein, sein. Da trotz verschiedener Neuerüngsbe-strebungen zur Kleinschreibung doch die konservative Richtung die Oberhand behalten wird und die Grundkenntnisse in Rechtschreibung und Sprachlehre, die man in der ersten Klasse der Mittelschule fordern muß, von Jahr zu Jahr geringer werden, erscheint es unerläßlich, diesen Teil des Unterrichtes zu intensivieren.

Freude am Lesen, Erziehung zur Dichtung

Ein eigenes Kapitel gebührt — bereits in den ersten Jahren der Mittelschule — der Erziehung zur Dichtung und ihrer Deutung. In unserer Zeit, in der das Kind entweder ungern liest, weil es durch Rundfunk, Film und Fernsehen stärker angelockt wird, oder oft wahllos „verschlingt“, was seiner Altersstufe nicht entspricht, bedarf es einer sorgsam gelenkten Lektüre. Schon in der ersten Klasse könnte neben dem Lesebuch die eine oder andere Ganzlektüre — hauptsächlich aus dem Bereich des Märchens (Andersen, Hauff, Hoffmann, Lagerlöf, Mörike, Storm) — einsetzen. Mag hier auch noch viel von dem Sinn' der Dichtung unverstanden bleiben, zumindest die Freude am Lesen und die Liebe zu erdachten Vorbildern werden geweckt. In den folgenden Schuljahren sollen immer wieder neben bewährten „Klassikern“ der Erzählkunst oder des Bühnenspieles (Stifter, Ebner-Eschen-bach, Rosegger, Keller, Storm, Eichendorff; Raimund, Nestroy, Grillparzer, Schiller) Dichter des 20. Jahrhunderts (Bergengruen, Boll, Meli, Schönherr, Schreyvogl, Thieß, Waggerl, Wildgans, Zweig) gelesen und gewürdigt werden. Zahlreiche Taschenbuchreihen bieten dazu genügend Auswahlmöglichkeiten.

Besonders wertvoll erscheint es mir

— auch schon in der Unterstufe —, die Schüler anzuweisen, eine Literaturmappe zu führen, die im Lauf der Jahre eine größtenteils selbst erarbeitete, auf dem gelesenen Werk gründende Literaturgeschichte ergibt, die nur mehr jeweils durch einige (biographische und ordnende) Verbindungslinien ergänzt zu werden braucht. Diese literarische Schulung stützt sich auf eine schriftliche Interpretation nach bestimmten Gesichtspunkten (Entstehung, Inhalt, Problematik, Cha-

rakteristik, Form, Gegenwartswert, Sentenzen, Dichter), die gleichzeitig als willkommene stilistische Übung gewertet werden kann, allerdings öfter einer stichprobenartigen Kontrolle bedarf. Die Voraussetzung für das Zustandekommen einer solchen selbst geschaffenen Literaturgeschichte bildet eine umfangreiche Klassenlektüre. Dann erst wird der Schüler Freude an der Dichtung und ihrer Deutung erlangen, wenn ihm die Vielfalt der gestalteten Geschehnisse zeigt, wie lebensnah das dichterische Werk die Wirklichkeit widerspiegelt und dadurch zu Vergleich, Wertung und Kritik herausfordert.

Die Literaturepochen

Die Oberstufe sieht nun eine (nicht ausdrücklich erwähnte, aber klar erkennbare) Eingliederung des Freigegenstandes Literaturpflege in den obligaten Deutschunterricht vor. Dies läßt sich auf Grund der gewonnenen Wochenstunde in der siebenten •und achten Klasse sowie des neunten Schuljahres mit vier Stunden leicht durchführen. Jetzt wird man endlich auch der sprachlichen Schulung durch (häufigere) Redeübungen, Referate, Rezitationen sowie Dramenlektüre mit verteilten Rollen und Diskussionen mehr Zeit und Sorgfalt widmen können.

Über die Verteilung der einzelnen Literaturepochen auf die fünfte bis neunte Klasse wird es nur schwer zu

einer Einigung kommen. Warum man erst in der sechsten Klasse mit einer zusammenfassenden Übersicht über die Literatur beginnen soll, da die Schüler doch offensichtlich wie bisher schon ein Jahr früher mit der mittelhochdeutschen Dichtung vertraut werden sollen, ist nicht einzusehen. Sehr begrüßenswert dagegen erscheint die Anregung, zeitlich nicht gebundene Werke der österreichischen, deutschen und fremdsprachigen Literatur zu lesen und zu besprechen und gleichzeitig daran die verschiedenen Dichtungsgattungen zu erklären. Vielleicht könnte man überall dort, wo eine moderne Neugestaltung des behandelten Stoffes den (fremdsprachlichen) Originaltext weitgehend verdrängte, diesen nur in Proben, jene aber als Ganzlektüre heranziehen (Hauptmann, Henz, Hochwälder, Hofmannsthal).

Vom Gestern ins Heute

In ähnlicher Weise ließe sich dies auch in dem mit „Klassik und Romantik“ begrenzten Zeitraum in der siebenten Klasse durchführen. Gibt es doch genug Dichter der Moderne, in deren Werken man klassizistische und neuromantische Einflüsse erkennen kann. Die Einschaltung solcher Dich-

tungen, die die hochklassische und streng romantische Stilepoche etwas auflockern könnte, würde nur um so deutlicher die gehaltliche und formale Nachwirkung jener „Standardepochen“ bezeugen (Braun, Buck, Cronin, Hochwälder, Kaiser, Le Fort, Wilder, Zuckmayer; Bergengruen, LeTnet-Holenia, Mann, Schneider). Die Entwicklung des österreichischen Volksdramas könnte nicht nur an markanten Lektürebeispielen (Raimund, Nestroy, Anzengruber, Schönherr, Billinger) aufgezeigt, sondern auch durch die Wertung der Dialogkomödie in Österreich (Bahr, Hofmannsthal) und des fremdsprachigen Lustspiels (Shakespeare, Moliere, Gogol, Shaw) in den Rahmen der Weltliteratur gestellt werden.

Für die achte Klasse umfaßt (trotz der vier Wochenstunden) der Überblick über die Literatur von der Romantik bis zur Gegenwart ein zw umfangreiches Stoffgebiet. Dieses dürfte höchstens bis zum Expressionismus reichen, das heißt die Stilepochen des Realismus, Naturalismus und Symbolismus einschließen.

österreichische und Weltliteratur

Die neunte Klasse sollte von ent-cheidenden Werken des Expressionismus ausgehen; auch hier müßte man die Österreicher würdigend einreihen (Schulausgaben fehlen von Dramen Mells, Werfeis, Csokors, Bruckners, ferner vom Prosawerk Kafkas, Musils, Brochs, Doderers) und sich anschließend mit der neuesten Literatur beschäftigen. Dies könnte ebenfalls durch Ganzlektüre — soweit Ausgaben vorhanden sind; warum scheut man sich, wenigstens eine zeitnahe Dichtung der jungen Burgtheaterautoren Bayr, Klinger, Kühnelt, Zusanek zu drucken? — oder in Diskussionen über aktuelle Bücher von literarischem Wert, Theater- und Filmpremieren, Hör- und Fernsehspiele erfolgen. Als vergleichende und kritische Zusammenfassung wäre eine Gruppierung der Weltliteratur nach Dichtungsgattungen und Problemkreisen besonders wünschenswert.

Auf der gesamten Oberstufe müßten stilistische Übungen in Form von Inhaltsangaben, Charakteristiken, Aufsätzen verschiedener Art bei jeder passenden Gelegenheit eingeschaltet werden, damit gleichzeitig die Grundbegriffe der Rechtschreibung und Satzzeichensetzung immer wieder von neuem ins Gedächtnis gerufen werden. Nur auf diese Weise kann für die — in berechtigt geringer Anzahl vorkommenden — Schularbeiten sprachliche Genauigkeit erarbeitet werden. Dabei tritt stets die noch ungelöste „brennende Frage“ nach einer gerechten Bewertung 'einer solchen Leistung, die sich unabweisbar in zwei unterschiedlich verankerte Fachgebiete, Sprache und Literatur, teilt, entscheidend hervor. Denn ganz selten findet man heute einen jungen Menschen, der in beiden Disziplinen auch nur annähernd gleichwertig begabt ist.

So bietet dieser neue Lehrplanentwurf viele verwertbare Ansatz- und Einsatzmöglichkeiten. Es bleibt allerdings die Frage offen, ob er nicht noch einschneidende Änderungen erfährt. Jedenfalls kann der Deutschlehrer zufrieden sein, im Bereich der gewonnenen Stunden .weites Neuland erschließen und damit die Schüler noch leichter für Sprache und Literatur gewinnen.

“) Vgl. hiezu die bisherigen Beiträge mr Schulreform. „Die Furche“ Nr. 10. 12, 14.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung