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Neue Musik muß nicht langweilen!

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Das war neu in Royan: Volksmusik lateinamerikanischer Gruppen

stimmte das Festival ein, in der freundlich-modernen Stadt am Atlantik und in einigen Orten der Umgebung; Folklore, die auf der Rekonstruktion originaler Instrumente basierte, die Elemente des modernen Chansons einbezog, bedenklich schon in kommerzielle Schlagernähe geraten war oder sich ihren Ernst und Anspruch durch politische Texte bewahrt hatte. Eine „lateinamerikanische Nacht“ bot den Übergang zum eigentlichen Festival Neuer Musik; parallel dazu wurde das Thema „Südamerika“ weitergeführt von einer stilistisch breitgefächerten, qualitativ sehr bemerkenswerten Kunstausstellung und vor allem in einer dichtgedrängten, nahezu von zehn Uhr vormittags bis zwei Uhr nachts permanent abgespulten Filmschau. Mit dem Medium „Film“ in Verbindung steht wiederum eine Präsentation mehr oder minder experimenteller Photographie — mit Beteiligung aus Frankreich, Belgien, Holland und der Bundesrepublik Deutschland. Preisgekrönt wurden die Arbeiten eines Holländers, die der surrealistischen Malerei nahestehen.

Somit ist das Hauptthema des Festivals angeschlagen: die musikalische Avantgarde in französischer Sicht ist deutlich artiflziell geprägt, hat — gemessen an der um Breitenwirkung bemühten Grundtendenz der Neuen Musik — einen betont kunsthaften Charakter. Vor zwei Jahren hat — nach einem neunjährigen Kontinuum — die künstlerische Leitung des Festivals gewechselt. Damit setzte eine Neuorientierung ein, die weniger auf die allenthalben aufgeführten Größen der Neuen Musik zielte als auf junge Begabungen. Es liegt aber in der Natur der Sache, daß diese Begabungen, auch wenn sie vorhanden sind, sich von Abhängigkeiten noch nicht freigemacht haben. So hörte man in diesem Jahr vielversprechende Ansätze, doch keinen, der regionale Begrenzung und die Starrheit stolz vorgezeigten Komponistenhandwerks zu sprengen sich anschickte.

Die konventionellen Bahnen Neuer Musik — zu denen auch die Ausläufer der Wiener und der Pariser Schule gerechnet werden müssen — wurden nur selten verlassen; theatralisch-instrumentale Aktionen, Einbeziehung von anderen Medien, von Geräuschen, von Klangzeichen der Wirklichkeit, offene Formen, Aktionen mit dem Publikum, Live-Elektronik: das alles gab es so gut wie gar nicht. Man setzte auf die Nachprüfbarkeit durchgefeilter Partituren. Von dem zeitweise tristen Musikmarathon, nicht frei von Chauvinismus und Uraufführungsmanie, hoben sich leuchtend einige — stilistisch ganz unterschiedliche — Glanzpunkte ab: Da war vor allem der Rückblick auf die immer wieder mit Staunen erfüllende Welt des Charles Ives, der im gleichen Jahr wie Schönberg geboren wurde, aus seiner Heimat Connecticut nie herausgekommen war, aber dort sein Ohr geschärft hatte für die Laute seiner Umgebung und mit seiner Musik in nahezu einmaliger innerer Freiheit ein unnaturalistisches Abbild des Lebens gab. Von der bunten Bewegtheit vorfrühlingshaften Strandtrubels spannten sich geheime Bögen zu den Klängen im Casino-Saal.

Neue Musik muß nicht langweilig sein: ein Stück wie „Approach“ von Carlos Roqui Aisina bewies es, das zur Gänze wiederholt werden mußte; ein von der Kraft des Einfalls getragener Versuch, naturhafte Vorgänge in rein musikalische zu transformieren. Den nächstgrößten Erfolg hatte der Schweizer Klaus Huber mit seinem vielgespielten Orchesterwerk „Tenebrae“. An neueren Namen wird man sich den des in der Nähe von Basel lebenden Engländers Brian Ferneyhough merken müssen: seine „Missa brevis“ für zwölf Stimmen a cappella beeindruckte dadurch, daß Intention und Struktur, Form und Ausdruck vollkommen zur Deckung gelangen. Zu diesem konzentriert-essentiellen Werk bildete eine zweiein'halbstündige Meditationsmusik, JShanti“ von Jean-Claude Eloy, elektronisch-konkret vom Westdeutschen Rundfunk realisiert für den herrlichen Kuppelraum einer Abtei in der Umgebung, den gleichwohl faszinierenden Gegenpol. Ehrenpräsident des Festivals war in diesem Jahr der Italiener Sylvano Bussotti, dessen verbal und durch einen beachtlichen Teil seines Werkes vorgetragene SeflbstdarsteUung heftige Diskussion auslöste. Sein extremer, dabei präzis formulierter Individualismus reflektiert wie in einem Brennspiegel die Problematik Neuer Musik. Höhepunkt war die konzertante Uraufführung des jüngsten Bussotti-Opus: „SyroSadunSetti-mino“ oder „Der Trionfo der Großen Eugenia“ — mit eigenen Worten des Komponisten eine Verherrlichung des Transvestiten-Milieus, subli-miert in hellfarbig-luzidem Vokalklang, erotische Musik von intimem und zugleich sich einschmeichelndem Gestus.

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