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Klangmassen im Raum

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Ein ganzes Konzert des Ensembles „die reihe“ im Mozart-Saal des Wiener Konzerthauses war Edgar Varese gewidmet. Von den insgesamt 15 Werken, die Varese geschaffen hat, wurden sechs aufgeführt. Das erste stammt aus dem Jahr 1921, das letzte von 1954, so daß man sich auf Grund dieses Querschnitts ein sehr deutliches Bild von der Musik Vareses machen konnte.

Der 1885 in Paris geborene Italiener ist einer der kühnsten, eigenwilligsten und — erfolglosesten Komponisten dieser ersten Jahrhunderthälfte. Von Anfang an oblag er, neben seiner musikalischen Ausbildung bei Vincent d'Indy und Albert Roussel in Paris, physikalischen und mathematischen Studien. In den Jahren 1906 und 1907 leitete er in Paris volkstümliche Chorkonzerte, im Jahr darauf dirigiert er in Berlin alte Meister und tritt in Beziehung zu Busoni, Reinhardt und Hofmannsthal. 1910 kommt er nach Wien, um bei Mahler zu studieren, und komponiert eine — leider verlorengegangene — Oper auf Hofmannsthals „Ödipus und die Sphinx“. Seit

1915 lebt er in Amerika, wo er ein Orchester und die Panamerikanische Komponistenvereinigung gründet. Zuletzt war Varese 1958 in Europa und konnte der Aufführung einiger seiner Werjttv beiwohnen.

Es ist kein Zufall, daß man sich in den letzten Jahren Vareses erinnerte. Bereits

1916 fordert er eine Bereicherung unseres musikalischen Alphabets und neue Instrumente, er sieht neue Probleme, welche „die Komponisten zusammen mit spezialisierten Ingenieuren“ studieren müßten — was ja heute in den elektronischen Studios von Paris, Köln, Rom, Warschau und Tokio geschieht___

Die Schwierigkeit für den Hörer Varese-scher Musik besteht vor allem darin, daß er mit den traditionellen Formen auf radikalste Weise bricht. „Das Mißverständnis“, schreibt Varese, „rührt daher, daß man von der Form als von einem Ausgangspunkt denkt, einem Muster, dem man Folge leistet, einer Schale, die zu füllen ist. Form ist das Ergebnis eines Prozesses. Ich habe nie versucht, meine Konzeption in irgendeinen bestimmten Behälter einzupassen.“ Die Konzeption, welche man am häufigsten und deutlichsten in Vareses Kompositionen erkennt, ist „die Bewegung von aufeinander unbezogenen Klangmassen, in dem Sinne unbezogen, daß sie sich gleichzeitig in verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen“.

Auch der Klang der Orchesterstücke Vareses hat einen besonderen, ganz spezifischen Charakter: es dominieren durchaus die Blas- und Schlaginstrumente, deren Arsenal stark erweitert ist. Man könnte, beim Anhören etwa der „Hype r-prisme“, der „Integrales“ oder „D e s e r t s“, an die „Bruitisten“ zu Beginn der zwanziger Jahre denken. Varese selbst sagt ja: „Ganze Symphonien von neuen Klängen sind in der industriellen Welt aufgekommen und bilden einen Teil unseres täglichen Bewußtseins. Es Scheint unmöglich, daß ein Mensch, der sich ausschließlich mit Tönen beschäftigt, durch diese neuen Töne unverändert bleiben kann...“

Trotzdem haben Vareses Kompositionen keinerlei programmatischen, illustrativen oder literarischen Charakter. Seine Titel weisen eher ins Gebiet der Abstraktion. Und in der Tat sind seine Partituren rein musikalisch konstruiert. Sehr typisch ist Vareses signalhafte Melodik, die Bildung von Klangflächen, von „objects sonores“, die versetzt und montiert werden. Dadurch entsteht der Eindruck des Statischen. Symphonische Entwicklungen, auch die von der Neuen Wiener Schule so virtuos gehandhabte Technik der'Variation, spielen bei ihm keine Rolle. „Das Varesesche Massiv ist einfach komponiert“, sagt von seiner Musik ein Kenner. Der Eindruck fast unerträglicher Härte entsteht für den Hörer infolge der völligen Ausschaltung der harmonischen Komponente, vor allem im Sinne des Wohlklangs.

Immerhin hat Varese auch einige wenige

„andere“ Werke geschaffen. Die „Off* r a n d e s“ von 1921 für Sopran und Kammerorchester sind auf zwei sehr poetische, symbolistische Texte geschrieben und lassen die Singstimme im Stil französischer Impressionisten deklamieren; es gibt sogar Streicher im Begleitorchester: Auch das Stück für Soloflöte mit dem Titel „Density 2 1,5“ verleugnet die Herkunft von Debussy nicht. Das extremste, bei diesem Konzert aufgeführte Werk stammt aus dem Jahr 1954 und ist zugleich Vareses längste Orchesterkomposition. Das halbstündige Stück „D e s e r t s“ von 1954 für Bläser, Klavier und Schlagzeug ist dreimal durch Tonbandeinschaltungen unterbrochen: schreckenerregende Klangvisionen von Robotermaschinen, Sturzkampffliegern, Detonationen, Sirenen und Maschinengewehrfeuer. Ein akustischer Alptraum, nach dem Vareses schrille Bläserfanfaren wie Hirtenflöten klingen...

Das anstrengende, aber hochinteressante Konzert wurde von Friedrich C e r h a geleitet. Marie Therese Escribano sang den Solopart in „Offrandes“, der Flötist Helmuth Rießberger spielte „Density 21,5“.

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