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Banales ist Wirklichkeit

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Ist unsere Zeit im Künstlerischen nicht mehr schöpferisch? Immer wieder hört man diese Klage, auch auf dem Holland-Festival, wo man stets eine Spürnase hatte für das Nicht-Alltägliche, Neuland Bereitende oder zu Unrecht Vergessene in Musik und Theater. Und diesmal, auf dem 29. Festival, das den 200. USA-Geburtstag zum Thema hatte? Den Off-off-Broadway gäbe es nicht mehr, die Komponisten (in den USA) seien konservativ, strebten zurück zu Brahms. Dahinter steht, scheint mir, ein falsches Geschichtsbild. Die Kunst schreitet nicht in gleichmäßigen Schritten voran; mal tritt dieses, mal jenes Moment signalhaft ins öffentliche Bewußtsein. Fünfzig Jahre bedeuten, da gar nichts.

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Ist unsere Zeit im Künstlerischen nicht mehr schöpferisch? Immer wieder hört man diese Klage, auch auf dem Holland-Festival, wo man stets eine Spürnase hatte für das Nicht-Alltägliche, Neuland Bereitende oder zu Unrecht Vergessene in Musik und Theater. Und diesmal, auf dem 29. Festival, das den 200. USA-Geburtstag zum Thema hatte? Den Off-off-Broadway gäbe es nicht mehr, die Komponisten (in den USA) seien konservativ, strebten zurück zu Brahms. Dahinter steht, scheint mir, ein falsches Geschichtsbild. Die Kunst schreitet nicht in gleichmäßigen Schritten voran; mal tritt dieses, mal jenes Moment signalhaft ins öffentliche Bewußtsein. Fünfzig Jahre bedeuten, da gar nichts.

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Vor fünfzig Jahren schrieb George Antheil — ein „Böser Bub der Musik“, wie er sich, selber rückblickend nannte — sein „Ballet meoanique“: ursprünglich sollte es die Begleitmusik zu einem von Fernand Leger entworfenen surrealistischen Film sein, der aber niemals gedreht wurde. Antheil benutzt neben viel Schlagwerk und vier Klavieren diverse Geräuscherzeuger, wie Wecker, Autahupen und einen Flugzeugmotor; er wollte seine Zeitgenossen vor der „Schönheit und Gefahr“ weniger der Meohanik selber als des mechanistischen Denkens warnen. Das Stück ist als typischer „Schocker“ der zwanziger Jahre, als Tribut an die „Maschi-nerawelt“ registriert. Aber heute wunde an der ausgezeichneten Aufführung des „Ballet mecanique“ auf dem Holland-Festival (mit einem eigens dafür zusammengestellten Ensemble unter Reinbert de Leeuw) noch etwas anderes deutlich: eine stupende, angriffige Frische, ein Stück „Rock 'n' Roll“ in der „Ernsten Musik“, die Vorwegnähme von Einsprengseln aus der — haute ins gesellschaftspolitisch erweiterte Blickfeld gerückten — Triviaimusik.

Der „Böse Bub“ hat wohl kaum gewußt, was er da in seiner Rolle als Pariser Bürgerschreck komponierte. Oder vielleicht doch? Antheil war ja auch Schriftsteller und Journalist; er schrieb nicht nur über Musik, sondern auch über Vorfälle des täglichen Lebens, gab Ratschläge zur Bewältigung von Alltagsproblemen. Eine ähnliche Verbindung zwischen künstlerischer und gelebter Realität bestand bei Charles Ives. Er war Versicherungskaufmann und mußte vom Komponieren nicht leben, war aber als Musiker — auch als Organist — akademisch ausgebildet. In seiner Musik reflektierte er vor allem bildhafte Erinnerungen aus

seiner Kindheit, wobei er scheinbar ganz ..realistisch“ vorging, plastische klangmalerische Schilderungen gab und zitierte, was in der erlebten Umwelt an Klängen vorkam. Nicht nur finden sich .^absichtslos“ Bitona-lität und Ator.alität, mehrschichtige Rhythmik > und Zufallseleinernte,

Vierteltöne, Unschärferelationen und Raumkomposition in seinem überwiegend aus fünfzehn Jahren-stammenden Werk; in seinen philosophischen Überzeugungen mag ihn auch manches mit John Cage, dem späteren Avantgardisten par oxcel-lence, verbinden ...

Die Ives- und Antheil-Retrospek-tive auf dem Holland-Festival, gewiß etwas zufällig in der Auswahl der Stücke, hatte höchstes Niveau. Zwei Beispiele, Ives betreffend: Das Concertgebouw-Orchester spielte unter Richard Duffalo, einem Spezialisten für zeitgenössische amerikanische Musik, „A symphony: Holidays“ — eine Suite über amerikanische Feiertage, in der das ganz Einfache und das äußerst Komplexe auf einen Nenner gebracht sind. Die größten Stimimungsgegensätze — etwa eine vorbeiziehende Militärkapelle und eine traumverlhangen-zarte, naturnahe Impression — sind zwingend eingebunden in den musikalischen Aufbau; 'hart aneinandergerückt wechseln die Bilder wie Filmschnitte. — Ähnlich mitreißend das streckenweise atonale, an Einfällen, Kontrastwirkungen und Innenspannungen überreiche Zweite Streichquartett: die jungen, exzellent begabten Spieler des „Concord String Quartet“ machten deutlich, daß da keine Note zuviel gesetzt wa>r...

Ives bringt, ähnlich wie immer noch Mahler, manche avantgarde-be-wußten Kritiker in Schwierigkeiten wegen eines Momentes, das sie „Banalität“ nennen. Dieses „Banale“ ist jedoch nichts anderes als ein Stück Wirklichkeit. Büchners „Woy-zeck“ zum Beispiel ist eine banale Geschichte. Sie wurde im Rahmsn des Holland-Festivals mit eindrucksvoller Einfachheit — d. h. mit der deutlichen Reduktion auf Handlung — erzählt von nur sieben New Yorker Schauspielern, die (ausgenommen die Rollen des Woyzeck und der Marie) jeweils mehrere Figuren gaben. Joseph Chaikin spielte den Woyzeck. Er kommt vom „Livimg Theatre“ her, war dort wie .später am „Open Theatre“ einem fast wortlosen, improvisatorischen, wenn auch in der Endgestalt genau präzisierten, körperbetonten Theater verpflichtet. Jetzt gibt er die bekannte Störy, ohne Verfremdung, auch ohne Beckett-Töne:

Ein Außenseiter, ein Unange-paßter wird systematisch kaputt gemacht und reagiert, wie die Gesellschaft es von ihm erwartet — mit einem Mord, der lustvoll erwarteten Hinrichtung. Die Aufführung, leise und hart, fast ohne Lieder, stürzt mit „ziwanighafter“ Logik in dieses Ende. — Die „Rückwendiung“ zur Klassik, zu Büchner, ist, scheint mir, keine Abwendung von der Moderne, sondern nur ein anderer Teil der avantgardistischen Erfahrung.

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