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„ Klassiker der europäischen „Moderne“

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In der letzten Folge der „Furche“ hat an dieser Stelle Dr. L. K. M?yer die Etappen der zeitgenössischen Musik aufgezeigt und die Logik ihrer Entwicklung etwa seit 1900 zu erweisen versucht. Auf die Generation der in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Geborenen (Busoni, Debussy, Wolf, Mahler, Reger, Pfitz- ner und Strauß), welche die Tonalität bis an ihre äußerste Grenze ausweiteten, folgten die etwa zehn Jahre jüngeren Komponisten, die eigentlichen Neuerer und Revolutionäre, deren Werke schon auf einem neuen Tonsystem basieren. Diese Kompositionen gelten auch heute noch als „modern“, obwohl sie zum größten Teil ihre Schrecken verloren haben — nicht aber ihren Reiz und ihre Wirksamkeit.

Der älteste dieser Reihe ist Arnold Schönberg (geb. 1874). Wir hörten im 5. Konzert des Wiener Kammerorchesters unter Franz Litschauer das Streichsextett „Verklärte Nacht", op. 4, in chori- scher Besetzung. Das 1899 komponierte Werk wurzelt gefühlsmäßig, harmonisch und kompositionstechnisch noch ganz in der Spätromantik. Das Schönste und Eindruckvollste daran stammt von Wagner: die dramatische Beredsamkeit der chromatischen Tristan-Motive und der „Feuerzauber“ im letzten Teil. Als neu an diesem gutklingenden Tongemälde erscheint uns heute eine gewisse Härte der Polyphonie, die für den späteren Schönberg so charakteristisch ist, und die gewaltigen Intervallsprünge der einzelnen Stimmen — Ergebnisse eines neuartigen Expressivostils. (Das überaus schwierige Werk, welches ein Orchester von Solisten erfordert, wurde sehr tüchtig musiziert. Wieder einmal erwies sich, wie vorteilhaft es ist, wenn ein Ensemble dauernd in einer und derselben Hand ist.)

Auch Strawinskys „Feuervogel" stammt aus der Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es ist die erste Ballettmusik, die Strawinsky 1910 für die Diaghi- lew-Truppe in Paris schrieb und 1919 umarbeitete. Man spürt in dieser Musik neben der Einwirkung der Russen Rimsky-Kors- sakow und Musorgsky, auch den der französischen Impressionisten, in deren enger Nachbarschaft Strawinsky arbeitete. Aber seine Farben sind leuchtender; greller, und an Stelle fließender Linien und Übergänge finden wir, besonders in der zweiten Hälfte der Suite, scharfe Kontraste, derbe und ungerade Rhythmen, schneidende Dissonanzen: wohl zum erstenmal in der westeuropäischen Musik jene charakteristische Verbindung von Raffiniertem und Barbarisch- Primitivem. (Wir hörten das Werk in einer akademisch exakten Aufführung im VII. Philharmonischen Abonnementskonzert unter dem Schweizer Dirigenten Volkmar Andreae.) Im gleichen Jahr, da Stra- winsky seinen „Feuervogel“ bearbeitete, schrieb er — ebenfalls für Diaghilew — „Les Noces“, vier Tanzszenen mit Gesang und Musik. Man könnte, nach dem Sujet zu schließen, ein harmlos-gefälliges, „leichtbeschwingtes“ Werkchen erwarten. Was Strawinsky daraus macht, ist so ziemlich das Aparteste und Raffinierteste, das es auf dem Gebiet der neueren Musik gibt. Der Text: kurjzeilige Lieder und Zwie gespräche voll einer urtümlich-heidnischen Symbolik; der Chor: oft nur einzelne

Worte rhythmisch wiederholend und rufend, sehr wenig „sangbar" und klangschön und sich der Einstimmigkeit nähernd; das Orchester: vier Klaviere und sechs Schlagwerker, die zuweilen beide Hände voll zu tun haben. Von der Szene abgelöst, wirkt diese ' Musik trotz ihrer rhythmischen Mannigfaltigkeit und ihres klanglichen Reizes eher abstrakt-konstruiert, als ursprünglich-vital. Stärker und unmittelbarer ist die Wirkung der „Geschichte vom Sol date n“, nach einem Text von C. F. Ramuz. Das Werk, 1918 entstanden, ist in seinem Gehalt und in seiner äußeren Form Resultat einer Not- und Umbruchszeit. In seinem Gesamtstil hält es die Mitte zwischen Hans Sachs und mittelalterlicher Moralität oder Mysterienspiel. Links vom Zuschauer: ein aus sieben Mann bestehendes Instrumentalensemble, in der Mitte eine kleine Jahrmarktbühne. rechts daneben der Vorleser an einem Tischchen. Die Handlung einfach und symbolisch, die Figuren des Spiels pri- mitiv-holzschnittmäßig, die Musik hart, realistisch, sich auf das Wesentlichste beschränkend. Dieser Stil hat Schule gemacht, aber auch der künstlerische Eigenwert des Werkes kann — 30 Jahre nach der Uraufführung — als erwiesen gelten. (Der Schweizer Dirigent Paul Sacher leitete die Musik, O. F. Schuh führte Regie, Fritz Wotruba schuf das Bühnenbild und entwarf die Kostüme, Mitglieder der Wiener Philharmoniker bildeten das Instrumentalensemble. Die Solisten: Harald Kreutzberg, Julia Drapal, Curd Jürgens und Christian Möller — als Vorleser.) Eine Reihe von Solosängern und der Staatsopernchor wirkten bei der „Russischen Bauernhochzeit" mit. Beide Werke erklangen im 5. Orchesterkonzert der Konzerthausgesellschaft. —

BJla Baft6ks Stil hat sich kaum gewandelt. Sein Concerto für Orchester, 1943 geschrieben, ist das letzte größere Werk des 1945 in den Vereinigten Staaten gestorbenen Komponisten. Herb und eigenbrötlerisch ist seine Tonsprache geblieben, aber der Inhalt hat sich gewandelt, vertieft, vermenschlicht. — Das Werk trägt in seinen mittleren Teilen geradezu autobiographische Züge: Fremdheit und Heimatlosigkeit des Exilierten in einer gegensätzlichen Umwelt, Erinnerung an die geliebte heimatliche Folklore, Reminiszenzen an den „Teich der Tränen" aus der eigenen Oper „Herzog Blaubarts Schloß“. Ein trotz seiner Sprödigkeit — oder vielleicht gerade deshalb — ergreifendes Werk, das man bald wieder hören möchte (im Rahmen des 2. Internationalen Musikfestes sollen wir ihm wieder begegnen). Die Wiener Symphoniker spielten das schwierige Werk im 4. Orchesterkonzert der Konzerthausgesellschaft unter Ladislaus Soanogyi, Budapest.

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