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Ein Frühlingsfest in Prag

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Von einer Komposition des 1915 geborenen Russen Georgi Swiridow sagt das Programmheft, sie gehe von der Intonation russischer Volkslieder und vom klassischen Vermächtnis russischer nationaler Volkslieder aus, wirke jedoch dank dem persönlichen Beitrag des Komponisten nicht banal. Der biedere Kommentator hat zweifellos nicht die Frage aufwerfen wollen, ob etwas, das von so hehren Vermächtnissen ausgeht, überhaupt banal wirken kann - aber er hat doch ein Problem berührt, mit dem sich das Musikfestival „Prager Frühling“ seit einigen Jahren herumschlägt: Man will zeitgenössische Musik aufführen, sie soll aber einerseits die Masse des Publikums nicht schrecken, sondern an die Überlieferung anknüpfen. Anderseits soll sie auch nicht banal oder epigonal klingen.

Im Falle des genannten Swiridow, dessen „Musik für Kammerorchester“ das Ostböhmische Kammerorchester aus Pardubitz vortrug, klang es angenehm. Aber aus erster Hand, etwa von Glinka oder Borodin, hätte man es mindestens ebenso gern gehört. Noch nie gab es beim „Prager Frühling“ so viel zeitgenössische, vor allem einheimisch-zeitgenössische Musik wie in den letzten Jahren. Von 47 Konzertprogrammen enthielten 15 Werke lebender tschechischer und slowakischer Komponisten oder waren ihnen ganz ge widmet. Allerdings handelt es sich bei den Tschechen ausschliqßlich um Mitglieder des Komponistenverbandes - und in den wurden einige der besten und international angesehensten Autoren immer noch nicht aufgenommen. Aber wenn auch das Herausragende fehlte, so war doch der Durchschnitt beachtlich und mit Sorgfalt gewählt. Was die böhmische Musik auch heute auszeichnet, ist ihre enge Verbindung zur Praxis. Die Stücke werden meist für bestimmte Musiker und Ensembles geschrieben, die Partituren dem Klang der Instrumente und ihren Möglichkeiten in hohem Maße gerecht.

Besonders deutlich wurde das im Konzert der „Sonatori di Praga“, einem kleinen Kammer ensemble, das sein Repertoire unmittelbar bei den Komponisten gleichsam einsammelt. Vier Musiker unter der Führung des ausgezeichneten Flötisten Peter Brock erweisen sich als erstaunlich vielseitig.

Im Vorwort des Festival-Programms werden wir darüber belehrt, daß die Salzburger Festspiele „ein Ereignis für die reichen Schichten“ und auch in Wien die Eintrittskarten teuer genug sind. In Prag dagegen „rechnet das Festival mit dem Bürger, für den der Erwerb der Eintrittskarte kein Budgetproblem darstellt“. Doch in Salzburg trifft man vor vielen Veranstaltungen Leute mit Zetteln, auf denen dringend Kartenwünsche zu lesen sind. In Prag dagegen begegnet man vor dem Eingang zum Konzertsaal mitunter Leuten, die ihre Karten dringend zu verkaufen suchen - Karten, die sie vielleicht verbilligt über die Gewerkschaft zugeteilt bekamen. Bei den Konzerten des Londoner Symphony Orchestra traf das nicht zu. Aber zum Beispiel bei denen des „Staatlichen Akademischen Symphonischen Orchesters der UdSSR“, die sichtlich nicht ausverkauft waren.

Das ist gewiß nicht mehr mit einem Boykott alles Russischen zu erklären. Qualität ist heute in Prag ohne Ansehen der Herkunft gefragt. Aber die Schicht der an allem Interessierten ist doch nicht so groß, daß sie drei Wochen lang täglich die Säle füllen könnte. Und für nur gelegentliche Konzertbesucher waren die Programme der Russen offenbarzu schwer verdaulich. Da gab es Prokofiew und Skriabin und Schosta- kowitsch und das Dritte Klavierkonzert von Stschedrin, das mit ungeheurer Vehemenz dissonante Klänge ballt. Der Dirigent Jewgenij Swetlanow hatte auch noch sein eigenes, dem Andenken David Oistrachs gewidmetes „Poem für Violine und Orchester“ mitgebracht. Ein bißchen Tschaikowsky wurde nur als Zugabe gewährt.

Auch diesmal wurden in Prag die Feste gefeiert, wie sie ins Jahr fielen. Da war der 150. Todestag Beethovens, der im Programm reichlich vertreten war, auch mit einem „Fidelio“, der im heutigen Chile spielt, und das 60jäh- rige Jubiläum der Oktoberrevolution.

Da heißt es wieder im Programm-Vor- wort: .. die Sowjetunion hatte das

Glück, daß zur Zeit der Revolution zwei geniale Komponisten - Prokofiew und Schostakowitsch - lebten, die beide unmittelbar auf aktuelle Ereignisse zu reagieren und diese in Musik umzusetzen vermochten.“ Nun stehen tatsächlich Schostakowitschs 1. und 3. Symphonie im Programm - Werke, die 1926 und 1929, noch unter dem Eindruck der Revolution entstanden sein können. Wenn aber im offiziellen, vom Nationaltheater ausgerichteten Festkonzert Prokofiews Kantate „Alexander Newskij“ von 1937 und Schostakowitschs „Festliche Ouvertüre“ von 1954 aufgeführt wurden, dazu der zweite Akt aus dem „Spartakus“-Ballett von Chatschaturian - lauter Werke also, die in der mächtigen, schon durchaus nachrevolutionären Sowjetunion entstanden sind, dann fragt man sich, was für ein Bild man sich heute in Osteuropa, speziell in Prag, von der Revolution macht, die da gefeiert werden soll. Eine kulturelle Revolution kann es ja wohl nicht gewesen sein.

Wenn der Gesamteindruck trotz einiger Einwände positiv ist, so nicht nur, weil die alte Stadt wieder einmal betörend in der Pracht der Kastanien- und Fliederblüten strahlte, weil allenthalben die Fassaden alter Häuser herausgeputzt werden. Sondern weil dieses Frühlingsfest sich trotz mancher Schwierigkeit um Qualität und um ein interessantes Programm bemüht.

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