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ORPHEUS STATT WOTAN

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In den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts kam aus der kleinen böhmischen Stadt Golc-Jenikau, kaum 30 Kilometer entfernt von Kalischt, dem Geburtsort Gustav Mahlers, der Photograph Ignaz Franz Schreker nach Wien und etablierte sich hier, in der Hauptstadt, die gerade durch die Initiative industrieller Revolution und beginnender Gründerzeit den mittelalterlichen Habitus abwarf und als Brennpunkt wirtschaftlicher Expansion sich in die Stadt der Repräsentationsbauten am Ring, der Fabriken und Zinskasernen in den Vorstädten verwandelte. — Die Photographie, noch nicht über die Pionierjahre hinaus, mit dem Hautgout des Mondänen und neuester technischer Sensation, ver-

langte wohl hoch von dem, der seine Existenz auf sie gründen wollte, Mut und Spürsinn, Verzicht auf das Convenu behäbigbürgerlicher Sicherheit; so finden wir Ignaz Schreker, der gegen den heftigen Widerstand ihrer Familie Eleonore v. Clossmann geheiratet hatte, immer unruhig-unterwegs, in den Treffpunkten der großen Welt, jeweils nur für wenige Jahre: Spa, Brüssel, Monaco; bis zu seinem plötzlichen Tod in einem Gasthof eines Dorfes in Oberösterreich, dessen wenige Häuser abseits der Hauptstraßen versteckt sind.

In Monaco war 1878 sein Sohn Franz geboren worden; die vier Jahre der Kindheit in einer mediterranen Stadt haben den späteren Opernkomponisten Schreker ebenso geprägt wie die

Not, in die nach dem Tod des Vaters die Familie geriet: ein sinnlich-rationaler, antimythologischer Zug bleibt in seinem Wesen bestimmbar, das Bewußtsein gesellschaftlicher Diskrepanzen lebendig.

Die Ideen zu einer Oper verdichten sich zum ersten Mal in Franz Schreker, nachdem er im Juli 1900 die strenge akademische Schule einer Kompositionsklasse am Konservatorium der Musikfreunde in Wien abgeschlossen hatte. Die Freiheit des eigenen Lebens, so unsicher sie auch gegründet ist auf Musikstunden, Arbeiten als Präfekt einer Ferienkolonie, in einem Handelskontor, überwältigt mit neuen Eindrücken geistiger Unruhe: die Zerstörung erotischer Tabus durch die Psychoanalyse, aufgefächert in der unerhörten Spätblüte einer zerfallenden Gesellschaft und deren Ordnung, in ihrer Architektur, Literatur und Malerei, in Sezession und Jugendstil, noch einmal ausgreifend nach dem Ganzen menschlicher Existenz.

Dem väterlichen Freund Ferdinand v. Saar zeigt er die ersten Entwürfe zu seiner Oper „Der ferne Klang“; er ändert auf seinen Rat die Schlußszene des dritten Aktes und komponiert 1903, durch das ausgesprochene Vertrauen auf seine dichterische und musikalische Kraft ermutigt, die beiden ersten Akte. Dann macht ihn das Urteil seines Lehrers Robert Fuchs und seiner Freunde, denen Text und Musik gleichermaßen als skandalös, als „verwirrtes Zeug“ erscheinen, unsicher. Der Inhalt:

„Grete, aus kleinbürgerlicher Familie, wird von Fritz verlassen um der Idee eines Klanges willen; diese will er in ein Kunstwerk fassen und Ruhm gewinnen. Bevor Gretes Vater seine Absicht, sie an einen reichen Wirt zu verkuppeln, ausführen kann, entflieht sie. Ausweglos allein, vor dem Selbstmord in einem Waldsee, fühlt sie die Kraft der lebendigen Natur, verfällt ihrem Zauber. Träumend folgt sie der Stimme ihres Blutes, symbolisiert durch die spukhafte Gestalt der alten Kupplerin.

In einem venezianischen Haus, der ,casa di maschere': ein Fest der Halbwelt; Musik von Tanzkapellen, eines Zigeunerorchesters; in unaufhörlicher Bewegung durcheinander Kavaliere, Dirnen um Greta als Königin der Szene. Sie verspricht sich als Preis für die beste Geschichte. Spät noch setzt Fritz auf die Insel über, gerät in den Kreis. Zunächst ahnungslos, erkennt er die Jugendgeliebte als die Gefeierte und stößt sie von sich. Haltlos verliert diese sich ans wüste Treiben.

Nach Jahren sind beide gescheitert; Greta zur armseligen Straßendirne heruntergekommen, Fritz durch Mißerfolg, Schuldbewußtsein und Krankheit zur Erkenntnis gelangt, daß er sein Leben einer Chimäre auslieferte. Nach einer durchwachten Nacht meldet sich ein Besucher bei Fritz; er führt Grete herein. Die Träume von gemeinsamem Glück werden durch Fritzens Tod zerstört.“

Erst nach dem großen Erfolg der für Grete Wiesenthal geschriebenen Musik zur Pantomine „Der Geburtstag der Infantin" und eines im Konzertsaal aufgeführten Zwischenspiels aus der Oper „Der ferne Klang“ findet Schreker Interesse für die Realisierung auf der Bühne und vollendet sie im Jahre 1910.

Als am 18. August 1912, nach der Aufführung des „Fernen Klangs“ — Schreker hatte gerade einen triumphalen Premierenerfolg erreicht — Siegfried Wagner das Frankfurter Opernhaus verließ, sagte er: „Das ist ja, als hätte mein Vater nie gelebt.“

Der Satz trifft mit der Genauigkeit zielsicherer Bosheit das Wahre: die Empörung des Epigonen darüber, daß einer dem sich nicht einfügen will, was von anderen zur restaurativen Ideologie heruntergebracht wurde, der Haß gegen das, was anders ist, tritt ins Licht. Die Entrüstung begeht aber Unrecht an Idee und Werk Richard Wagners selbst; diese lassen sich nicht nach Begriffen von Fortschritt und Traditionalität auflösen, sondern enthalten deren Momente untrennbar ineinander verschränkt.

Wagner beherrscht nicht nur die Komponisten, die ihm nachfolgen, sondern bindet auch durch Abwehr und Feindschaft an sich, was sich gegen ihn wendet. Schreker aber komponiert Abschnitte der Oper, als sei es möglich, den Zwang der geschichtlichen Entwicklung, dessen Diktat von Wagner vollzogen wird, aufzuheben. Er setzt den Formbegriff der europäkcben Musik, der von Kausalität als grundlegender Kategorie musikalischer Logik bestimmt wird, außer Kraft. Statt dessen greift er ein Formprinzip der instrumentalen Volksmusik Osteuropas auf: die offene Architektur aneinandergereihter Abschnitte, die nur durch improvisierende Variation locker verknüpft sind. Auf dieser Basis findet Schreker Neues: indem er die Formteile nach ihrer melodischen Deutlichkeit differenziert, diese vom Hintergrund ostinater Tongruppen bis zum prägnanten Motiv, zur thematischen Gestalt abstuft, werden Überblendung und Gleichzeitigkeit verschiedener Ebenen des musikalischen Geschehens möglich; zu Beginn des „casa di maschere“-Aktes fügen die aufschießenden, sich drehenden Gesten und Linien der Holzbläser und Streicher, die gewichtslos schwebenden Frauenstimmen sich zu planetenhaft kreisenden Bildern: die Idee eines alle Dimensionen umfassenden musikalischen Raums wird sichtbar.

Das Wort, von dem wir ausgingen, hat auch darin seine Wahrheit, daß es nicht stimmt: die Rancune gegen das Neue verleugnet, was diesem und dem Früheren gemeinsam ist. Wie sich im einzelnen der Text des „Feinen Klangs auf neu-

romantische und naturalistische Muster zurückführen läßt, so entwickelt sich Schrekers Musik aus Einflüssen der Entwicklung nach Wagner, des französischen Impressionismus und des Wiener Fin de siede zur Selbständigkeit. Weiter aber führt erst Einsicht, die über die Erörterung von Stilkategorien oder eine bloß musikalisch-technische Analyse hinausfindet; aus der Wechselwirkung ästhetischer und gesellschaftlicher Phänomene und deren Niederschlag im Notentext wäre der Entfaltung von Wahrheit im Kunstwerk nachzuspüren.

Schrekers Opern sind der äußeren Form nach durchkomponierte Musikdramen; ihre Intentionen und innere Struktur stehen jedoch quer zum musikdramatischen Verfahren Wagners: die einzelnen Formteile seiner Opern, immer der Einheit des Ganzen untergeordnet, bleiben doch als Besonderes im allgemeinen der ganzen Form erhalten. So stellt sich Schreker kritisch gegen das scheinhafte, ideologische Wesen der musikdramatischen Form Wagners, das auf der Basis der starren Leitmotive die dialekti- sche'Bewegung der einzelnen Elemente aufhebt und Formtotalität als erfüllte musikalische Zeit nur vortäuscht.

Wenn bei Wagner Abschnitte deutlich werden, ist dies mehr als Residuum älterer Opernformen aufzufassen: noch die Tatsache, daß schon zu Lebzeiten Wagners aus den Totalwerken neben anderen Glanznummern wie „Walkürenritt“ und „Feuerzauber“ der „Liebestod“ aus „Tristan und Isolde“ herausgebrochen, arrangiert und populär wurde, meldet die Erfahrung an, daß dieser Abschnitt nicht ohne Rest im intendierten Formganzen aufgeht, sondern das bewahrt, wovon die musikdramatischen Normen Wagners sich absetzen wollten, die pathetische Geste der großen Oper.

Hier wird die grundlegende Heteronomie der Opernform überhaupt sichtbar: weder ist es möglich, auf dem Schein des Ganzen zu beharren, der die Brüche verdeckt, noch auf Schemata der vorwagnerschen Nummernoper kritiklos zurückgreifen, wie dies im italienischen Verismo geschieht; (— die „Arien“ des „Fernen Klangs" werden denn auch in ironische Distanz gerückt, von einem Schmierenschauspieler gesungen, oder verfremdend aus der Handlungsebene herausgehoben, wie zwanzig Jahre später die Songs im epischen Theater Brechts).

Die Widersprüche der Form, von denen sie in jedem ihrer Momente geprägt werden, verurteilen die legitimen Opern unseres Jahrhunderts, unter die wir neben Bergs und Schönbergs Opern auch jene Schrekers rechnen, zum Mißlingen. Aber erst durch dieses Mißlingen werden sie legitim: aus ihnen wird die Schrift der Wahrheit lesbar.

Die Divergenz der Konzeptionen Wagners und Schrekers ist in ihrer tiefsten Schicht erst an den Ideen der Werke selbst erkennbar. Aus Th. W. Adornos Satz, daß Wagners Musik „auf die Kritik am Mythos, die seit Erfindung der Opernform dieser wesentlich innewohnte, verzichte" und „daß auf Wagners musikalischem Theater die Figur des Orpheus unvorstellbar sei", ist der Gegensatz zu entwickeln: in den Opern, die Schreker schrieb, nach dem „Fernen Klang“ „Das Spielwerk“, „Die Gezeichneten", „Die Schatzgräber“, „Irrelohe“, „Christophorus“, „Der singende Teufel", „Der Schmied von Gent", in den nicht komponierten Opernbüchern „Die tönenden Sphären“ und „Memnon“, basiert die Vielfalt der Handlungsführung auf einheitlicher gedanklicher Grundlage: Schreker rückt den Orpheus-Mythos, Architypus der Oper, kritisch ins Zentrum seiner Werke Dieser meint, daß Natur, deren Verwandlung ins Kunstwerk nur möglich wird kraft der Entfremdung von ihr, sich eben durch Entfremdung vom Lebendigen am schöpferischen Individuum rächt. Die Hauptpersonen der Opern Schrekers scheitern aber nicht am mythischen Verhängnis, sondern daran, daß die Dialektik des Mythos im schöpferischen Bewußtsein sich nicht mehr rein ausformen läßt, da dieses gebrochen ist durch die Herrschaft der Verdinglichung und des gesellschaftlichen Zustandes.

Hierüber weist die Musik Schrekers hinaus; sie beschwört, am Ende in den musikalischen Gestus des Wiegenliedes mündend, was nur Musik kann:

Ihre Idee ist, ohne die Verlorenen aus der Negativität zu entlassen oder sie in Transzendenz zu erretten, die des tröstenden Gesangs.

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