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Carl Orffs Gesamtkunstwerk

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WAS CARL ORFF auf seinen beiden großen schöpferischen Gebieten, dem der Musikerziehung mit dem „Schulwerk“ und mit der Welt seines Theaters, ausgeformt hat, ist allgemeines Anliegen unserer Zeit. Seine einzigartige Leistung besteht darin, daß seine Lösungen aus genialem Instinkt ins Zentrum dieser Probleme getroffen haben.

Das Phänomen, um das es im Theaterbereich geht, ist der Uebergang von der soziologisch streng gebundenen Oper zum erneuerten musikalischen Welttheater, das seine großen Vorbilder im barocken Jesuitenspiel, in der mittelalterlichen Sacra rappresentazione und nicht zuletzt in der alten griechischen Tragödie hat. Welttheater — das heißt: es geht nicht mehr um Darstellungen individuellen Lebens, sondern um' das typische Menschenschicksal, um das Bild des Menschen schlechthin, in seinem Handeln und Erleiden projiziert auf den kosmisch-religiösen Welthintergrund. Der Mensch erscheint im vordergründigen Spiel seines Lebenstheaters als sein Exponent, aber auch — echt Orffscher Optimismus in unserer so. pessimistischen Zeit! — als aktiver Mitgestalter des Lebensspieles.

ZUM VERSTÄNDNIS seines Bühnenschaffens ist es wesentlich zu wissen, daß die Hauptanregungen ihm nicht von der alten Oper kamen, sondern aus der Welt des Sprechtheaters. Als jungen Kapellmeister an den Münchner Kammerspielen in den Jahren ihrer Glanzzeit beeindruckten ihn aufs nachhaltigste die genialen Inszenierungen Otto Falckenbergs — und insbesondere die von Shakespeare-Stücken. Hier fiel der zündende Funke in Orffs Theaternatur und, die Geschichte der Theaterformen bis hinab .zur Urzeit durchmusternd, erwuchs ihm die Idee eines neuen elementaren Gesamtkunstwerkes, das im „Urgrund Musik alle vordergründigen Spielmittel zur Einheit bindet“ (Orff). Urgrund Musik — das bedeutet die letztliche Ausdrucksidentität aller künstlerischen Formen, die das Theater vereint. Anders also präsentiert sich diese Gesamtkunstwerksidee als bei Wagner, der von der Ergänzung der einzelnen Künste im Zusammenspiel ausgeht.

Aus der Idee eines elementaren Theaters erwächst bei Orff des weiteren der radikalere Schritt, Sprechtheater und Musiktheater erneut zur Einheit zusammenzuschließen. Das musikalische Element der Sprache, aus Platons techne musikė wohlbekannt, wird damit wieder entscheidend ins Blickfeld gerückt. Lind mit ihm das der Sprachen! Bekanntlich umschließen die Orffschen Werke, von den „Carmina Burana“ (1937) an über „Der Mond“, „Die Kluge“, „Catulli Carmina“, „Die Bernauerin“, „Astutuli“, „Trionfo di Afrodite“, „Antigonae“ die Musik zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ bis hin zur jüngsten „Commedia de Christi Resurrectione“ Texte in klassischem wie mittelalterlichem Latein und Griechisch, in Deutsch, Hölderlin-Deutsch, bayrischem Dialekt wie Altfranzösisch. Und diese Anwendungen bedeuten Klangregister, keineswegs Kapriziosität eines Erzhumanisten.

Sehr charakteristisch für das neue Orffsche Welttheater ist nicht minder der Einbruch des

Epischen. Aller Psychologismus des modernen Dramas ist verbannt. Die Szenen reihen sich zu einem großen Bilderbuch, in dem jede Seite eine Hauptstation des ganzen Geschehens sinnfällig vor Augen führt. Mit Recht nennt man Orffs Theater: monologisch-statisch.

EINSCHNEIDEND und ganz persönlich getönt sind naturgemäß die stilistischen Konsequenzen der musikalischen Technik. Aus einer Synthese von Modernem, der Tradition tieferliegender Jahrhunderte (Schütz, Monteverdi, Lassus) und sogenannten primitiven Beständen erbaut sich eine elementare Musiksprache, die keineswegs extremen Klanglichkeiten huldigt, vielmehr ebenso einfach wie eingängig ist. Ihre klangliche Besonderheit liegt in der Sphäre eines — breit ausgebauten Schlagwerkorchesters, das in den Werken von „Catulli’ Cäfhiina" bis zur „Antigonae" zu überragender Geltung kommt,’ ih der „Afrodite“ erneut die Ehe mit dem alten Streichkörper eingeht. Es ruft gerade die elementaren rhythmischen Mächte auf und stellt — ebenso wie das Schulwerk — sinnfällige Fruchf der langjährigen Arbeit an der Güntherschule dar.

DEM STATISCHEN BILDERBUCH der geistigen Theaterwelt Orffs entspricht eine ebensolche statische architektonische Musikform — logisch aus dem Symbolismus hervorgegangen. Alle Durchführungstechnik, Modulationsvorgänge klassischer Provenienz sind gefallen und mit ihnen der kontrapunktische Satz; im Grunde herrscht eine durch Mixturen usw. auskomponierte Einstimmigkeit. In den großen Quadern des großarchitektonischen Baues treten uns die Tonsymbole mit aller unmittelbaren Aussagekraft entgegen und prägen sich in ihren statischen Wiederholungen unauslöschlich ein. Der Rhythmus umreißt scharf ihre Konturen, während die harmonisch-klangliche Sphäre, die in Wagners Orchester tragendes Ausdruckselement war, zur reinen Stütze absinkt. Der Schwerpunkt aller Aussage aber liegt — und hierin sieht Orff selbst das Neue, da? er gebracht hat — im melodischen Ausdruck.

Mit allen raffinierten Mitteln wird die Intensivierung dieser Ausdruckszone erreicht, mit Falsett und Führungen an der Stimmgrenze, mit Agogik, Dynamik und Phrasierung, mit gewaltigen Sprüngen und Melismen. Zugleich umfaßt der Melosbegriff alle Register vom Sprechen über das rhythmisierte Wort und psalmodische Formen verschiedenster Prägung bis hin zum kantablen Gesang. Der melodische Duktus läßt in der gestischen Entsprechung von „Musik“

und „Bewegung" gerade das Wesen des „Urgrundes Musik“ zu vollen Anschaulichkeit gelangen, denn die rhythmisierten melodischen Figuren weisen oftmals mit überraschender Eindeutigkeit auf die körperlichen Bewegungsformen des Spiels auf der Bühne hin. T.P w

AN DEM ORFFSCHEN MUSIKBILD verblüfft die Einfachheit und die ungewöhnliche Sparsamkeit der Mittel. Alles steht unter dem Motto der Verwesentlichung. Denn das ist Orffs, in der Eigenentwicklung immer mehr zur letzten Klarheit gebrachtes Credo, daß das Geistige in aller Reinheit und daher nur mittels der notwendigsten sinnlichen Zwischenträger zum schauenden Hörer sprechen soll. Das ist die Leitidee seines gesamten Theaterstils, der daher immer mehr zur reinen Stilbühne drängte.

Der Zugang zum Orffschen Werk erschließt sich einzig und allein vom Gesamt seines Theaters — ohne dabei den Musiker ungebührlich hintanzusetzen. Das Wesen aber dieses Theaters ist universal. Nicht nur als „Welttheater“ und im Rückgriff auf die elementaren Mittel aller Zeiten, sondern auch in der gezeichneten Breite eines Menschenbildes, das alle Extreme des Ernstes wie der Satire in sich vereint: und nicht zuletzt im Zeichen eines Europäertums, das Geist des Nordens wie Geist des Südens zusammenklingen läßt und die Fülle des abendländischen Geisteserbes — jenseits eines blassen Historismus — zum lebendigen Gegenwartserlebnis gestaltet.

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