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Ungarischer Musiksommer

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Die Sommersaison besteht natürlich auch in Ungarn aus Freilichtaufführungen, Parkkonzerten und Festspielen unter dem Sternenhimmel. Die wichtigsten sind: Parkkonzerte im schönen klassizistischen Hof des Budapester Kärolyi-Schlosses und im Beethoven-Park der Martonväsarer Brunswick-Residenz, wo sich Beethoven öfters aufhielt und wo er — der Legende nach — auch die „Appassionata“ komponiert hat. Die Aufführenden dieser Konzerte sind meistens ungarische Künstler, doch gastieren ab und zu auch Ausländer; die Höhepunkte der Saison waren die Konzerte von Eugen Szenkär, Annie Fischer und vom polnischen Dirigenten Henryk Czyz. Die Programme umfassen die Standardwerke des symphonischen Repertoires und sind meistens Wiederholungen der Winterkonzerte.

Eine andere Konzertstätte in Budapest 1st der Hof des Schmidtschen Barockschlosses. Hier finden unter wunderbaren akustischen Bedingungen Kammerkonzerte statt; sie waren in diesem Jahr die besten der Sommersaison. Es spielten unter anderen das Juilliard-Quarlett, das Tätrai-Rammerorchester, es sang der Leipziger Thomanerchor (eine kleine Enttäuschung!), Solokonzerte gaben der russische Pianist Rudolf Kerer und der Sieger des vorjährigen Casals-Wett- bewerbs, der japanische Cellist Tsuyoshi Tsutsumi.

Viel attraktiver als die obenerwähnten Veranstaltungen sind die Freilichtfestspiele in der südungarischen Stadt Szeged. Diese Festspiele haben eine Jahrzehnte umfassende Tradition; man entdeckte bereits in den dreißiger Jahren den Domplatz als einen wunderbaren Festspielplatz. Damals dirigierte zum Beispiel Mascagni die „Cavalleria“ in Szeged, die Turandot sang Gina Cigna, und man führte jedes Jahr das erhabenste ungarische Drama, „Die Tragödie de Menschen“ von Imre Madäch auf. Nach dem Krieg verstummte der schöne, neogotische, von vier Seiten umschlossene Domplatz; in den Jahren des Tito-Konfliktes war Szeged keine geeignete Stadt für Festivals. Vor drei Jahren haben aber die Stadt Szeged und der sehr agile GMD des dortigen Nationaltheaters, Viktor Vaszy, die Szegeder Festspiele zu neuem Leben erweckt. Man hat eine immens große Tribüne für 7500 Personen gebaut, den Platz mit akustischen Einrichtungen (zum Beispiel Tonretardierungsapparaten) ausgestattet, und seitdem strömen die Leute aus dem In- und Ausland wieder im Sommer nach Szeged.

— Die diesjährigen Festwochen brachten

— neben den traditionellen Aufführungen unserer Nationaloper „Hunyadi Läszlö“ von Erkei und einer mit internationaler Besetzung inszenieren „Aida" (Margaret Tynes in der Titelrolle) — drei interessante Novitäten.

Als ungarische Neuigkeit wurde „Vidföcki“, eine „Volksoper“ von Ferene Farkas, uraufgeführt. Nach einstimmiger Meinung der Fachleute und des Publikums kann festgestellt werden, daß dieses Stück ein mißlungener Versuch war. Librettist und Komponist wollten eine Brücke zwischen der romantischen Nationaloper Erkels und den Bühnenwerken Bartöks schlagen und experimentierten zu diesem Zweck mit längst verstaubten Genres. Die Handlung frischt eine alte Räubergeschichte auf, die Musik greift auf die Verbunkos-Melodik des 19. Jahrhunderts zurück. Die ganze Oper hat einen Beigeschmack des „Volksschauspiels“ der Jahrhundertwende, dieses Verwandten der spanischen Zarzuela und des Wiener Volksstückes.

Viel mehr wurde um die Neuinszenierung des „Holzgeschnitzten Prinzen“ von Bartok debattiert. Diese .Neuinszenierung wurde dem in ganz Europa berühmten Ballettensemble von Pecs und seinem Choreographen Imre Eck anvertraut. Eck behielt nur die Grundlinien der Handlung des Balletts bei. Er verwarf alle volksmärchenähnlichen Elemente und ersetzte die Naturkräfte durch abstrahierte feindliche Mächte. Damit wurde das Tanzspiel der Gegenwart angepaßt, und aus der getanzten Volksmärchenidylle wurde ein „Verfremdungsstück“. Man kann natürlich darüber streiten, ob das alles im Sinne Bartöks geschah oder nicht; man muß aber feststellen, daß diese Version des „Holzgeschnitzten Prinzen“ annehmbar und lebensfähig ist. Die ausgeschliffene, virtuose Technik des Ensembles und die reiche Bewegungsphantasie von Eck — sowohl im Lyrischen, als auch im Grotesken — kippten die Waage der ganzen Produktion eher auf die positive Seite.

Mit Bartöks Ballett wurde am gleiclfcfc Abend das szenische Oratorium „Jeanne d’Arc auf dem Scheiterhaufen“ von Honegger aufgeführt. Dieses Oratorium ist eines der Lieblingsstücke des ungarischen Publikums, bisher wurde es aber nur konzertant gegeben. Die musikalischen Aufgaben der Aufführungen waren glänzend gelöst, dank dem tüchtigen polnischen Dirigenten Henryk Czyz. Die Inszenierung (Regie: Miklös Szinetär) war den Äußerlichkeiten nach sehr gelungen, auch die mächtige Domfassade „spielte mit“. Es war aber zuviel des Guten. Zuviel Bewegung, zuviel Farben, uviel Domfassade... Den gröbsten

Fehler beging der Regisseur in der Wahl der Titelheldin, die kein Pathos und keine Deklamationskultur hatte und statt Claudels und Honeggers Heldin das Bauernmädchen von Domrėmy darstellte. Die Gesangssolisten — an der Spitze Jözsef Rėti, der großartige Bischof Cau- chon — taten ihr Bestes. Alles in allem war auch diese Aufführung gelungen. Da das Stück sehr gut in dieses Milieu paßt, kann man hoffen, daß Honeggers Oratorium in der Zukunft zu den Traditionen Szegeds gehören wird.

Den Anfang und das Ende der Sommersaison bezeichnen zwei interessante internationale Kongresse. Im Juni tagte die Konferenz der International Society of Musical Education in Budapest, und in den letzten Augusttagen trat der Kongreß des International Folk Musik Council zusammen. Für beide Veranstaltungen waren gute Gründe vorhanden: einerseits hat die ungarische Musikerziehung in den letzten Dezennien Weltberühmtheit erworben, zum Beispiel die ungarischen Instrumentalschulen und pädagogischen Stücke sind überall bekannt und geschätzt; anderseits war und ist die ungarische Volksmusikforschung vorbildlich.

Der Nestor der musikalischen Folkloreforschung, unser großer Komponist Zol- tön Kodäly, ist gegenwärtig Präsident des IFMC. Hauptthema der Kongresse waren: „Moderne Musik in der Musikerziehung“ bzw „Volksmusik und Musikgeschichte“ und „Systematisierung der Volksmusik“. An den beiden Kongressen nahmen Fachleute von internationalem Rang teil.

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