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Silberhochzeit mit der Moderne

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Venedig feierte ein bedeutsames Jubiläum: das heurige „Festival In-ternazionale di Musica Coii-temporanea“ war die 25. derartige Veranstaltung der „Biennale di Venezia“. 25 Feste für die Neue Musik — das ist eine Zahl, die sich sogar in unserem rekordsüchtigen Zeitalter sehen lassen kann; sie wird zum Index einer bewundernswerten Leistung, wenn man bedenkt, daß sie gerade in Venedig zustande gekommen ist. Denn die „Serenissima“ unter den Städten der Welt, die Stadt der selbstzweckhaften Schönheit, ist an sich gewiß nicht prädestiniert dafür, sich mutig für das Neue, noch Unerprobte einzusetzen: Müder Genuß und historische Attitüde scheinen ihrem kostbaren Wesen eher angemessen als die stets neue Auseinandersetzung mit der künstlerischen Gegenwart. Anderseits gibt es wohl kaum einen anderen Ort, wo diese unnachgiebige Bemühung so mühelos sich ins Zweck-entbunden-Festliche zu verwandeln vermag.

Das Jubiläumsfest galt vor allem den Jubilaren dieses Musikerjahres, dem 100jährigen Debussy und dem SOjäh-rigen Strawinsky. Daneben trat in Venedig noch der gleichaltrige Zoltan K o d a 1 y (der zu einer Aufführung seiner jüngsten Symphonie eigens aus Budapest herbeigereist war) und, verständlicherweise, der ebenfalls heuer 80jährige Gian-francesco M a 1 i p i e r o, dem ein Festkonzert des Römischen Radio-Symphonie-Orchesters (unter anderem mit der Uraufführung von „Rappresentazione e Festa di Carnasciale e della Quaresima“) gewidmet war. Den Anfang machte ein Hommage ä Debussy, eine Aufführung von „Pelle as et Melisande“, durch Kräfte der Pariser Oper. Das artifizielle Musikdrama von 1901 in dem preziösen Teatro La Fenke von 17<>2 zu erleben, bereitete hohen Genuß, nik-h wenn die Darbietung nicht in jedem- Belang (vor allem nicht in der szenischen Realisierung) Festspielqualität erreichte. — Das Festkonzert, mit dem des „Wahl-Venezianers“ Igor Strawinsky gedacht wurde, war dem Dirigenten Ettore Gracis anvertraut, der es — mit seinen an einen Prestidigitateur gemahnenden Gesten — dem Fenke-Orchester nicht eben leicht machte, die im „Sacre du Printemps“ und im Klavier-Capriccio (Solist: Nikita Magaloff) geforderte Texttreue zu erfüllen. Im Mittelpunkt des Abends und des Interesses standen die beiden letzten Novitäten des Meisters: das A-cappella-Anthem „The dove deScending breaks the air“ und die Kantate „A Sermon, a Narrative and a Prayer“, die von denselben Solisten wie bei der kurz vorher erfolgten Baseler Uraufführung interpretiert wurde.

Aber auch die anderen „Klassiker der Moderne“ waren im Programm vertreten: der bedeutende Geiger Andre Gertler und seine sympathische Gattin Diane Anderson (Klavier) spielten Bartök, Webern war mit den „Sechs Stücken“ op. 6 und dem Streichquartett vertreten, und mit dem „Präludium zur Genesis“ op. 44 sowie dem „De profundis“ kam der religiöse Schönberg gebührend zu Wort. Es versteht sich von selbst, daß von den lebenden Komponisten besonders die Italiener beim Musikfest präsentiert wurden: einheimische Komponisten aller Altersstufen, aller Richtungen und aller Qualitätsgrade waren vertreten. Leider wurde, wie einige Konzerte erwiesen, bei den älteren von ihnen weit weniger auf das Niveau ihrer Arbeiten geachtet als bei den auch hier umstrittenen „Avantgardisten“, von denen Luigi Nono, Vitto-rio FeJlegara, Franco Evangelisti und Aldo Clement! besonders eindrucksvolle Werke zu Gehör brachten.

Daneben wurde ein Querschnitt durch das zeitgenössische Musikschaffen der anderen europäischen Länder geboten, der zwar keinen Anspruch aus Ausgewogenheit erheben konnte, in seiner unorthodoxen Vielfalt jedoch Zeugnis gab von der Lebendigkeit der so oft totgesagten Moderne. Neben etlichen schon „arrivierten“ Jungen — Stockhausen (mit einer Bandvorführung seines „Carre“

für vier Orchester), Boulez (mit den „Structures II“), Henze (mit drei von Dietrich Fischer-Dieskau gesungenen Arien aus der „Elegie für junge Liebende“ und mit den großartigen „Antifone“) — gab es hier auch einige Neuentdeckungen: Sie sind der eigentliche Gewinn des Festes, und es spricht für die Zwangsläufigkeit der Musikentwicklung, daß die drei technisch interessantesten und klanglich überzeugendsten Werke zugleich auch die radikalsten und avanciertesten waren. Sowohl Roland Kayns „Phasen — Obelisk für Auschwitz“ wie Mauricio K a g e 1 s „Sonant“ wie Earl Browns „Available Forms II“ setzen sich mit dem Problem der „offenen Form“ auseinander.

Der Internationalität, die Venedigs Musik-Biennale in ihrem Namen trägt, wird sie aber nicht nur durch die weitoffene Auswahl der aufgeführten Werke gerecht, sondern gleicherweise durch die Verpflichtung von Interpreten aus allen wichtigen Musikländern der Erde. Erstaunlicherweise erfreuen sich Ensembles aus dem Osten bei den Veranstaltern besonderer Beliebtheit: Diesmal war das Orchester der „Zagreber Philharmonie“ zu zwei Konzerten nach Venedig geholt worden. Besonders hohes Ansehen genießt der Aufführungsstandard der deutschen Rundfunkanstalten, wie die Verpflichtung von gleich drei Ensembles aus der Bundesrepublik — Chor des Bayrischen Rundfunks, München; Kölner Ensemble für Neue Musik; Berliner Radio-Symphonie-Orchester — bewies. Österreich dagegen, das im Ensemble der „Reihe“ immerhin ebenfalls ideale Interpreten modernster Kammermusik besitzt, war diesmal in Venedig überhaupt nicht vertreten.

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