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Magisches Zigeunerleben

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Sergius Golowin, 1930 in Prag geboren, in Bern aufgewachsen, Bibliothekar und Dichter eines „phantastischen Realismus”, auch Volkskundler, nach Friedrich Dürrenmatts Zeugnis einer jener, der „Gerechtigkeit sucht für jene, die für uns immer unrecht haben”, hat sich in seinem jüngsten Buch „Zigeuner- Magie im Alpenland” jenes fahrenden Volkes angenommen, das wie kein anderes von Verfolgungen durch seine Geschichte begleitet wird. Aber er bereicherte damit nicht die — leider spärliche — Literatur über die Zigeuner, ihre Geschichte und ihre meist schlimmen Schicksale, sondern er steuert sehr viel Sagen- und Legendenhaftes zu dem Thema bei. Da es über die Zigeuner — und auch unter diesen — durch Jahrhunderte keine „Geschichte” gab, sondern eben nur „Geschichten”, mündliche, zumeist ins Phantastische, ausgeweitete Überlieferungen, ist dieser Beitrag, eine Art von „Herdfeuer-Geschichte”, .besonders wertvoll und besonders ‘ wichtig.

Ganz so rätselvoll sind die Zigeuner freilich nicht. Nach Herkunft

Abkömmlinge der untersten Kaste aus dem fernen Nordwestindien und bis in unsere Tage Nomaden, stießen sie geradezu zwangsläufig bei den seßhaft gewordenen europäischen Völkern und Stämmen auf Abneigung und Widerspruch. Da sie sich weder integrieren wollten noch konnten — als sie es zu wollen begannen, ließ man sie nicht! —, wurden sie eben jene „Vogelfreien”, jenes „Lumpenproletariat”, das in den Wäldern und am Rande der Gesellschaft hauste.

Am Verhältnis zum Zigeuner läßt sich nachweisen, daß nicht nur Faschismus und Rassenwahn den Zigeuner buchstäblich nach dem Leben trachteten, sondern nahezu alle gesellschaftlichen und politischen Systeme Europas. „Vogelfrei” ist ein sehr romantischer Begriff: er bedeckt, was gang und gäbe war daß Zigeuner von jedermann vom Leben zum Tode befördert werden durften, egal, aus welchem Grunde. Einzig in Spanien fanden sie schon frühzeitig zu einer Art Gedulde’t- sein, das ihnen eine wenn auch weit unten gelegene Stellung in der Gesellschaft einbrachte. Daß sie auf dem Balkan weniger verfolgt wurden als in den höher zivilisierten Regionen Europas, liegt an der Art dieser Gegend und an deren soziologischem Zuschnitt — verachtet und ganz unten blieben sie auch dort.

Zigeunerbücher, wie das des Sergius Golowin gehören daher in einer Zeit, die sich für äußerst aufgeklärt, tolerant, liberal und demokratisch hält, zur Pflichtlektüre. Jedermann wird unschwer herausfindsn, wie unaufgeklärt, intolerant, unliberal und undemokratisch sich beinahe alle ‘Menschen, Völker und Staaten noch heute dem Zigeuner gegenüber verhalten, der erst aufhört, „verdächtig” zu sein, wenn er restlos assimiliert und kein Zigeuner mehr ist.

ZIGEUNER-MAGIE IM ALPEN- LĄND, Geschichte eines vergessenen Volkes. Von Sergius Golowin. 280 Seiten, 28 Abbildungen, Verlag Huber & Co., Frauenfeld, Schweiz DM 28.—.

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