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Ein Volk -mitten unter uns

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DAS VOLK DER ZIGEUNER. Von Jean-Paul Clitut. Paul-Neff-Verlag, Wien-Berlin-Stuttgart. 260 Seiten, 27 Illustrationen. Preis 129 s.

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DAS VOLK DER ZIGEUNER. Von Jean-Paul Clitut. Paul-Neff-Verlag, Wien-Berlin-Stuttgart. 260 Seiten, 27 Illustrationen. Preis 129 s.

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Auf einer Heide in Wales stehen, so lange man zurückdenken kann, Zigeunerunterkünfte, die erstaunliche Niveauunterschiede aufweisen; man könnte glauben, daß man die ganze kulturelle Entwicklung eines Volkes vor sich hat. Primitive Wohnhütten, die aus einem von wasserdichten Tuchbespannungen überzogenen Holzstangengestell bestehen, hocken vereinzelt neben tonnenförmigen „cowered Waggons“, die an die Wohnwagen der amerikanischen Pionierzeit erinnern. Neuzeitliche Vorfahren der modernen Wohnwagen stehen auch herum, schließlich luxuriöse, bestens gehaltene „Caravans“, die dem in nichts nachstehen, womit ein bürgerlicher Familienvater seine Familie an den Ferienort befördert.

Das ist allerdings in Großbritannien, wo die Zigeuner immer schon geduldet wurden. Hitler ließ rund 400.000 Mitglieder dieses Volkes an der „Endlösung“ teilnehmen; haben unsere Kinder jemals einen echten Zigeuner gesehen? Von ein paar Wissensfetzen abgesehen — wieviel wissen wir über diese mysteriösen Nomaden wirklich? Inmitten unserer stabilen, hochorganisierten Gesellschaft lebt dieses Volk, das sämtliche Grundwerte unserer Kultur ablehnt oder nicht einmal zur Kenntnis nimmt. Allen Gemeindevätern ein Dorn im Auge, gehen die Zigeuner unbekümmert ihrer Wege; merkwürdigerweise hängt das Maß an Verständnis, das die seßhafte Menschheit ihnen entgegenbringt, wenig vom Stand der Freiheiten im jeweiligen Land ab.

„Das Volk der Zigeuner“ ist eine seriöse ethnologische Studie, worin ziemlich alles steht, was über Ursprung, Geschichte, Sprache und Bräuche der Zigeuner mit Sicherheit gesagt werden kann. Jean-Paul Clebert ist in der Welt offenbar sehr viel herumgekommen, man wird aber kaum fehlgehen, vermutet man in seinem Buch hauptsächlich sekundäres Material. Trotzdem, und wenn auch gelegentliche direkte Gespräche mit Zigeunern den Stoff ein wenig aufgelockert hätten, ist „Das Volk der Zigeuner“ ein faszinierendes Buch; in mancher Hinsicht ist es noch interessanter als selbst die besten Studien über einzelne primitive Völker. Die simpelste Begründung für diese Behauptung wäre die: Diese Nomaden indischen Ursprungs leben nicht irgendwo in der weiten Welt, sondern mitten unter uns — und wir kennen sie nicht.

Dazu kommt aber, daß ihr in allen wichtigen Belangen des Lebens magisch-rituelles Handeln wegen ihres Wanderns durch die Gebiete anderer Völker ungeheuer kompliziert, vielfältig, eventuell widerspruchsvoll ist. Die Vermengung katholischen und folkloristischen Glaubens in der Verehrung der schwarzen Jungfrau Sara in Sainte Marie les Mers ist allgemein bekannt. Unter der Vielfalt heidnischer Ritualhandlungen, die jedoch der Außenwelt gegenüber völlig verborgen bleiben, ist eine der tiefsinnigsten die Zigeunertaufe, wobei das Kind einen geheimen Namen erhält, den selbst der Vater nicht erfahren darf. Hochinteressant wäre es, zu diesen Themen die Meinungen der wenigen katholischen Priester zu erfahren, die sich um die Zigeuner kümmern.

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