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Explosion statt Assimilierung

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Das Zigeunerproblem in der CSSR hat sich anscheinend verewigt. Zugegeben: das Husäk-Regime trägt keine Schuld daran, es muß sich damit aber hoffnungslos herumschlagen. Im Jahr 1938 wurden nur 60.000 Zigeuner in der Republik registriert. Seither aber strömten aus den benachbarten sowjeteuropäischen Ländern, vor allem aus Ungarn, wo die russische Besatzungsmacht und das Räkosi-Regime kein weiches Herz für die Zigeuner hatten, lange Karawanen in die Tschechoslowakei, vor allem in die Ostslowakei. Aus der Emanzipation wurde keine Assimilierung, sondern eine Bevölkerungsexplosion. In wenigen Jahren wuchs die Zahl der „osteuropäischen Inder“, wie sie von grimmigen Verwaltungsbeamten genannt wurden, auf 226.000, wovon 167.000 in der Slowakei leben. Rüde Prävo schätzte die Zahl der Zigeuner kürzlich auf 300.000.

Das Nachkriegsregime hatte nicht gewußt, welch glühendes sozialpolitisches Eisen es in die eigene Tascho gesteckt hatte, als es verkündete, daß die Zigeuner nach jahrhundertelanger Unterdrückung und Diskriminierung nun endlich im Zeichen von Karl Marx emanzipiert werden sollten. Die Partei plante die Umerziehung und Schulung der Zigeuner, um auf diese Weise neue Arbeitskräfte heranzuziehen. Die Nazis hatten vorher die Zigeuner zum .asozialen Volk“ degradiert und ihre Zahl aui erbarmungslose Weise dezimiert.

Eine Lösungsmöglichkeit freilich lag direkt auf der Hand: es galt, die Zigeuner in den Randgebieten anzusiedeln, aus denen die Sudetendeutschen soeben verjagt worden waren. Alles leicht gesagt, aber schwer getan ... Ausbildungsprogramm, Gesundheitsdienst und andere Aktionen verliefen sich bald im Sande. Mentalität und altgewohnte Lebensweise der Nomaden waren stärker als der gute Wille und als alle Begünstigungen.

Prag war verärgert und griff zu härteren Maßnahmen. Im März des Jahres 1959 wurde durch das Gesetz Nr. 74/1958 theoretisch das Nomadenleben „abgeschafft“. In der Praxis allerdings mißachteten die Zigeuner das Verbot ganz einfach und verließen ihre neuen „permanenten Wohnsitze“ wortlos. Endlose Planwagenkarawanen bevölkerten aufs neue die Nebenstraßen des ganzen Landes. Andere Gruppen zirkulierten in Zügen und Autobussen.

Das Regime verfiel daraufhin ein paar Jahre lang in Resignation. Später erschienen das Regierungsdekret Nr. 502/1965 und der Regierungserlaß Nr. 384/1968, der ein Spezialkomitee ins Leben rief, das des Zigeunerproblems Herr werden sollte. Auch daraus ist nichts geworden. Es war leicht, zu befehlen, die Zigeuner sollten mit einem Schlag ihre traditionelle Lebensweise beenden. Aufgescheucht flüchteten sie daraufhin in alle Himmelsrichtungen.

In der Ostslowakei, wo 90.000 Zigeuner in 930 Siedlungen leben, hat sich herausgestellt, daß jährlich im besten Fall nur 450 Familien angesiedelt werden können. Was aber tun, wenn jährlich mindestens 1000 neue Zigeunerfamilieri in der Slowakei gegründet werden? Die jungen Paare zogen in die Behausungen ihrer Eltern oder bauten sich Hütten, wobei sie sich um irgendwelche behördliche Vorschriften nicht kümmerten. In vielen Fällen kehrten zwangsweise angesiedelte Familien ohne Erlaubnis über Nacht in ihre früheren Wohnsitze zurück. Füreinander haben Zigeuner immer ein großes Herz, sie nehmen Verwandte ohne Umstände in ihre Hausgemeinschaft auf. Im Nu waren in den Städten ganze Straßen von ihnen okkupiert und Zigeunerkollektive gegründet, die von den Behörden weder geplant noch erlaubt waren. Ende 1967 gab das Regime zu, daß die Zigeunerfrage derart delikat und kompliziert sei, daß sie während einer Generation gar nicht gelöst werden könne. Die Umerziehungsexperten wollten die Flinte ins Korn werfen. Laut Rolnicke Noviny ist in den letzten Jahren die kulturelle Rückständigkeit der Zigeuner nur noch größer geworden. Seit 1965 besuchen immer weniger Kinder die Schulen, nur 15 Prozent von ihnen haben die neunjährige Grundschule hinter sich gebracht. Die slowakische „Pravda“ mußte zugeben, daß derzeit nicht weniger als 13.800 Vollanalphabeten registriert sind.

Die Tschechen sind von all dem mehr alarmiert als die Slowaken. Viele Zigeunerfamilien leben ausschließlich von der staatlichen Kinderbeihilfe. Radio Prag wies einmal darauf hin, daß 22jährige Zigeunerinnen, die acht Kinder haben, keine Seltenheit seien. Als Beispiel wurde ein stolzer Zigeuner zitiert, der bei den Behörden angefragt haben soll, wieviele Kinder er noch zeugen müsse, um eine bestimmte Summe zu erhalten.

Die rückständigsten Familien haben den größten Kindersegen. Das primitive Leben in Hütten und Zelten stört sie nicht im geringsten und die Gefahren der Inzucht noch weniger. Sollte die Zigeunerbevölkerung sich im bisherigen Tempo vermehren, könnte ihre Zahl in der CSSR bis zur Jahrtausendwende eine Million erreichen.

Nun hat gar das ostslowakische Parteiorgan, Vychodoslovenske Noviny, vorgeschlagen, durch Gesetz die Sterilisierung der Zigeuner anzuordnen. Das Blatt gab zwar zu, daß eine derartige Maßnahme inhuman sei, und das Regime konnte sich bishe.-gottlob zu einer solchen „Endlösung“ ä la Hitler nicht entschließen. Dennoch rufen viele Kommunisten, sowohl Regierungs- als auch Parteifunktionäre, nach gewaltsamen Lösungen !

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