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Pulverfaß Balkan

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Schon Otto von Bismarck hatte den Balkan nicht durchschaut, der buntfleckige Vielvölkerteppich blieb ihm immer fremd - und unheimlich. Als 1878 beim Berliner Kongreß die Grenzen der südosteuropäischen Staaten neu gezogen wurden, weigerte er sich, eine albanische Delegation aus Prizren zu empfangen. „Eine albanische Nation? Die existiert nicht'', soll der deutsche Reichskanzler gesagt haben, „das sind doch alles ,Bergtürken"'.

Fast hundert Jahre später und dem europäischen Bewußtsein längst nicht mehr gegenwärtig, meldeten sich die „Bergtürken" wieder zu W-0rt. Z:war nur für eine Woche, aber dennoch, das Land der Skipetarenhievte sich in die Schlagzeilen. Zum Erstaunen, aber auch Befremden der westlichen Welt klopften in Tirana 6.000 Botschaftsstürmer an die europäische Pforte. Da fragte man sich sogleich: Sollen wir diese „Bergtürke????" gerade jetzt hineinlassen, wo plötzlich ganze Völker die langwierig zusammengebastelte Nachkriegsordnung Europas im Stich lassen wollen?

Man vernimmt doch: Die Slowenen und Kroaten wollen von Jugoslawien abfallen, Serbien warnt, aus sich selbst auszutreten, denn letztendlich sei doch alles in Südslawien serbische Geschichte und Kultur, zudem 70 Prozent des Bodens, 60 Prozent der Bevölkerung. So wollen es zumindest fanatische Nationalisten allen Zweiflern eillreden. Als neue Missionare erklären sie jetzt die Bosnjaken und Mazedonier als einen Unterstamm ihres durch Titos Schergen angeblich „in Teile zerstückelten", aber doch so großen Volkes. Und mit diesen Ideen gewinnen ehemalige Dissidenten wie Vuk Draskovicund Vojislav Seäelj zunehmend an Boden. Bei den anstehenden ersten freien Wahlen in Belgrad seit Kriegsende werden ihnen zunehmend Siegeschancen gegen denAltkommunis ????en Slobodan Milosevic

eingerätimt. Dabei gab dessen eigenes Nationalprogramm als Präsident und Parteichef „Kleinser ·biens" schon genug zu denken: „Serbien wird stark sein, oder es wird nicht sein! "Erinnert das nicht an einen Deutsch-Österreicher'l

Eine Annexion hat der Alleinherrscher denn auch schon hinter sich. Die Kosovo-albanische Provinz im Süden taufte er kurz in „serbisches Altreich" um. Die "Reichsteile" Bosnien und Maze-

donien könnten bald folgen, fürchten selbst offizielle Stimmen in Sarajevo und Skopje. Doch währendsicb die muslimischen Bosnjaken noch hinterfragen, was sie dem entgegensetzen könnten, erinnern sich die neuen Politakteure in Skopje ihrer IRA-ähnlichen IMRO aus dem letzten Jahrhundert. Nun wi????derbegründet- ganz unbemerkt von Europa -werden die Stimmen lauter, die zu einem souveränen mazedonischen Staat Teile Bulgariens, Griechenlands und Albaniens zusammenfassen wollen.Erleichternd bei diesem Unternehmen ist, daß Griechenlanddie Existenzeinerslawischen Minderheit rundweg leugnet (die Unterdrückten dürfen nicht einmal ihre Muttersprache gebrauchen) und Bulgarien seit Dimitroffs Tod die Mazedonier zu einem ihrer bulgarischen „ Unterstämme" erklärt, wiemandasschon kennt seit dem Exodus einer halben Million Türken und Pomaken im letzten Jahr Richtung Türkei.

Vom „tausendjährigen Reich" wird in Sofia in diesen Tagen viel geschrieben und die rumänischen Nachbarn berechnen-wie es Ceausescu lehrte-ihre Geschichte auch nur in weitläufigen Epochen, die weit zurückreichen bis hin zum Urvolk der Daker. Die „Episode" von Trianon als qer multinationale Schmelztiegel Siebenbürgen mit nic????t ganz rechten Dingen an Bukarest

Bukarest fiel, wird übersprungen: Rumänien war schon immer ein Land der Rumänen. Minderheiten? So etwas kennt man nicht. Aber fragt man heute, ob es eine rumänische Minderheit außerhalb der Landesgrenzen gäbe, so weiß jedes Kind: Im ehemaligen Bessarabien, jenseits der Pruth leben die Brüder 'und Schwestern. Und die gilt es, aus dem zusammenbrechenden. Sowjetreich zu befreien. So steht es doch geschrieben in der freien neuen Presse.

Südlich von Wien tümmeln sich Nationalstolz und Größenwahn mit einer Brise Geschichtsklitterung und einem Wässerchen Übertreibung zu einem chauvinistischen Nationalbrei zusammen. Mit du Westöffnung schreitet eine „Balkanisierung" einher, wie es gerne jenenennen,dienurZuschauersind. Aber hat schon jemand die verzweifelten Rufe der Siebenbürger Ungarn, der nordböhmischen Polen und der Roma-Zigeunergehört? Roma fühlen sich von Prag bis Sofia vertrieben, die Frauen gar Zwangssterilisierungen ausgesetzt.

Zersplittert, „rassisch" vermischt und mit multinationalen Einflüssen unklar in ihrem „Nationalbewußtsein", fühlen sie sich auf einmal als zu klein, die Völker, Volksgruppen und Kleinstethnien Südosteuropas. Sie haben alle Deutschland im Auge. Was in Mitteleuropa gelang, muß auch uns gelingen. Sie glauben daran. Und werden wohl zerbrechen

Ein Pulverfaß nach dem anderen öffnet sich, aber dennoch poeht jede Seite darauf, sein „Reich" zu „ vereinen". Mitteleuropa schaut distanziert zu. Keine Stimme, die warnt. Serbien, Rumänien, auch Mazedonien oder Albanien sind eben nicht „Deutschland"! Aber woher wollten auch die Stimmen k!)mmen? Die Deutschen sind mit sich selbst beschäftigt, Österreich· fühlt sich auch immer mehr zu klein, will sich an eine größere Einheit hängen. Vorerst genannt Europäische Gemeinschan - aber später?

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