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Rumäniens „Gaullismus”

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Eines der vielen Dinge, an die Marx nicht gedacht hatte, ist die Frage der Beziehungen zwischen sozialistischen Staaten. Der im letzten so gar nicht wissenschaftliche und so sehr „mythische” Marx hatte allzusehr mit geschichtlichen Notwendigkeiten und allzuwenig mit dem Beharrungsvermögen des „alten Adam” gerechnet. Nach einem halben Jahrhundert Sowjetexperiment ist noch nirgends der „neue Mensch” sichtbar, der nach Marx der Asche des Privateigentums entsteigen soll, und nach bald zwanzig Jahren Ostblockexistenz erhebt innerhalb des proletarischen Internationalismus der alte europäische Nationalismus wieder sein Haupt. Was heute in Rumänien geschieht, ist eine Resurrektion des Nationalismus, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem politischen Geschehen im Frankreich de Gaulles aufweist.

Dürfen wir im Osten preisen, was wir im Westen verurteilen?

Diese Frage müßte sich eigentlich jeder stellen, der sich heute zum Thema „Rumänien” äußert, doch leider überwiegt die — durchaus berechtigte — Freude über die Desintegration im Ostblock über mögliche politische Bedenken allgemeinerer Natur. Dabei lehrt die Geschichte Rumäniens, daß der Nationalismus. auch in diesem Lande an sich keineswegs unbesehen als Wert gepriesen werden darf, war er doch sehr oft zum Beispiel ein treuer Alliierter eines üblen Antisemitismus, der heute kaum völlig überwunden sein dürfte.

Was soll man also auf unsere Frage antworten? Man könnte — ausnahmsweise — streng marxistisch denken und versuchen, die Situation Rumäniens dialektisch zu deuten: Die bisherige Satellitenexistenz Rumäniens wäre als eine Negation, als die Verneinung der Freiheit und Unabhängigkeit zu werten, und der heutige nationalistische Aufstand gegen diese Negation wäre dann die berühmte „Negation der Negation”. Aber obgleich diese gegenüber dem vorherigen Zustand einen dialektischen Fortschritt darstellt, ist sie noch nichts wirklich Positives, und Marx hat denn auch von einem Zustand jenseits der Negation der Negation geträumt. Aber lassen wir Marx und sagen wir einfacher: Als Mittel, die nationale Unabhängigkeit und damit Freiheit zu erlangen, ist der rumänische Nationalismus gewiß legitim — und im übrigen einfach eine Reaktion auf die sowjeti- į sehen Beherrsohungs- und Beein- \ flussungsversuche —, aber als j Ordnungsprinzip einer künftigen j osteuropäischen oder gar gesamt- 1 europäischen Ordnung kann er i zweifellos nicht dienen, denn allem Nationalismus ist etwas Destruktives immanent. Man wird gut daran tun, das bei der Beurteilung der gegenwärtigen Geschehnisse in Osteuropa, die nian als beginnende Emanzipation der „Satelliten” Moskaus — die in Wahrheit längst j keine wahren Satelliten mehr sind — ; bezeichnen könnte, zu berücksichti- ! gen. Eine weitblickende Politik I Moskaus müßte sich heute Gedan- į ken über die Möglichkeit eines künftigen osteuropäischen Commonwealth machen — aber um außenpolitisch so liberal denken zu können, müßte man sich zunächst wohl innenpolitisch etwas mehr in der Praxis des Liberalismus geübt haben.

Da es sonst kaum je getan wird, erachten wir es als nötig, diese Überlegungen über Wert und Unwert eines osteuropäischen Nationalismus unseren Skizzen zur rumänischen Situation voranzustellen. Was in Rumänien seit zwei Jahren geschieht, ist ein außerordentlich geschickter Versuch, die im Weltkommunismus dank der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking erfolgte Spaltung dazu auszunutzen, die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit von Moskau zu erlangen und innerhalb des Weltkommunismus eine Art Neutralitätsstatus zu erreichen. Am Anfang der rumänischen Unabhängigkeitsbewegung steht zweifellos die Spaltung zwischen China und Rußland, die deshalb von so entscheidender Bedeutung für die Situation im Weltkommunismus ist, weil sie für alle Kommunisten — seien sie nun „Satelliten” Moskaus oder bloße Kommunistische Parteien in nichtkommunistischen Staaten — die Möglichkeit der Alternative schuf: der Alternative „Peking” oder, wie eben das rumänische Beispiel lehrt, der Alternative „Neutralität”.

Warum aber, so wird man nun fragen, wählen nicht auch die Polen, die Ungarn, die Ostdeutschen diesen rumänischen Weg? Die Antwort ist wesentlich im Ökonomischen zu suchen: Es gibt keine politische Unabhängigkeit ohne eine gewisse materielle Basis, und Rumänien befindet sich in der privilegierten Lage, über eine außerordentlich gute und starke materielle Basis — man denke vor allem an das Erdöl — zu verfügen. Rumänien kann im Gegensatz etwa zu Polen — wirtschaftlich durchaus auf eigenen Füße stehen und ist weder auf die Hilfe der Sowjetunion noch auf die Unterstützung durch das COMECON die osteuropäische „EWG” — angewiesen. So ist es denn auch bezeichnend, daß die Emanzipationsbewegung Rumäniens innerhalb eben dieses COMECON einsetzte, und zwar in eben jenem Augenblick, da das COMECON versuchte, die rumänische Wirtschaft mit ihren außergewöhnlich reichen Bodenschätzen zu integrieren. Es hätte sich dabei um eine Integration gehandelt, die wesentlich den Partnern Rumäniens zugute gekommen wäre, ohne daß Rumänien durch entsprechende Hilfe im Sinne einer Unterstützung seiner Industrialisierungsbestrebungen entschädigt worden wäre. Im Gegenteil: das COMECON zeigte sich in Sachen Industrialisierung Rumäniens recht unlustig, und offenbar schwebte einem eine Art nationaler Arbeitsteilung vor, in der Rumänien die Rolle des Rohstofflieferanten für die „Industrienationen” wie etwa die Tschechoslowakei und die DDR zu spielen hatte. Das war der unmittelbare Anlaß für das „gaullistische” Veto Rumäniens, das nun vorläufig jede echte Integration in Osteuropa blockiert.

Man weiß, was seither geschehen ist: Rumänien begann, seine Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen auszubauen und sich so seine Industrialisierung, die ihm von seinen kommunistischen Bundesgenossen verweigert worden war, selbst zu erarbeiten. Die rumänische „Neutralität” wurde dadurch, zumindest auf dem wirtschaftspolitischen Sektor, sogar erweitert zu einer Art Neutralität im Ost-West-Konflikt. Es ist klar, daß das nicht ohne politische Folgen bleiben kann, und bereits sind denn auch die ersten Anzeichen einer außenpolitischen Selbständigkeit Rumäniens zu verzeichnen. In den Vereinten Nationen ist es bereits vorgekommen, daß die rumänische Delegation anders gestimmt hat als die sowjetische, und man wäre nicht überrascht, wenn Bukarest in Zukunft auf außenpolitischen Gebieten, wie etwa demjenigen der Abrüstung, eigene Initiativen entwickeln würde. Auf der Genfer Abrüstungskonferenz war bereits eine erste Andeutung einer solchen Möglichkeit zu verzeichnen.

Weit mehr ist innenpolitisch geschehen. Daß man gleichsam über Nacht ganz Rumänien „entrussi- fizierte” und die Kinos, Straßen und Plätze mit russischen Namen auf rumänische Namen umtaufte, mag man als eine — angesichts der Stimmung im Volke sehr populäre — politische Trotzaktion werten. Schon mehr politisches Gewicht hatte die Schließung des Maxim- Gorki-Institutes in Bukarest, das so etwas wie ein „Sowjethaus” war, und die Einstellung der rumänischen Ausgabe der bekannten internationalen Sowjetzeitschrift „Neue Zeit”. Offenbar um seine politische Kreditfähigkeit dem Westen gegenüber zu bekunden, hat man weiter eine Amnestie für politische Gefangene erlassen, und es sollen in der letzten Zeit mehrere tausend politische Häftlinge entlassen worden sein.

Daß man in Bukarest gewillt scheint, aufs Ganze zu gehen — aufs Ganze der Selbständigkeit —, beweist vor allem jenes Kommunique über die Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Rumäniens vom April dieses Jahres, das inzwischen von der Weltpresse zur „rumänischen Unabhängigkeitserklärung” ernannt worden ist. Es handelt sich dabei im wesentlichen um das Ergebnis der Beratungen des ZK über die von Bukarest unternommenen Versuche, zwischen Peking und Moskau zu vermittelnd Sosehr die Rumänen sich hüten, einseitig für Peking Partei zu ergreifen, sosehr kommt ihrer Erklärung aber der Charakter !; einer „Absetzbewegung” von Moskau zu. Sie kleiden ihr neues Unabhängigkeitsbewußtsein in die Forderung, es dürfe im Weltkommunismus keine Vater- und keine Sohnparteien mehr geben, keine Parteien erster und zweiter Ordnung, sondern nur noch eine große Familie gleich- f berechtigter Parteien. (Ähnliches I fordern bekanntlich auch die Chinesen in ihrer antisowjetischen Propaganda, in der sie immer l wieder vom russischen Chauvinismus sprechen.)

Eine letzte Frage bleibt: Wie wird Moskau sich diesem schwerwiegenden politischen Affront gegenüber auf die Dauer verhalten? Die Position Moskaus ist äußerst heikel: die Beispiele Jugoslawiens und Ungarns warnen. Eine militärische Intervention ä la Ungarn 1956 kann sich Moskau heute nicht mehr l te n, es sei denn, es käme irgendwo wieder zu einer offenen Revolution, was aber im Falle Rumäniens völlig unwahrscheinlich ist, da hier ja das kommunistische Regime selbst revoltiert und sich damit zum erstenmal eine breite Popularitätsbasis schafft. Läßt Moskau es aber zu einem politischen Krach kommen, so könnten die Rumänen sich auf eine jugoslawische oder gar albanische — Position zurückziehen. Alles spricht also für ein äußerst behutsames Vorgehen Moskaus. In der Tat hat Moskau bisher fast alles vermieden, was die Rumänen hätten als Brüskierung empfinden müssen. (Soweit wir im Westen über die Vorgänge informiert sind.) Als kürzlich der Moskauer Professor Valjew die Schaffung einer sowjetisch - rumänisch - bulgarischen Wirtschaftsintegration im Gebiet der unteren Donau vorschlug und die Rumänen darauf äußerst erbost reagierten, beeilte sich die „Iswestija”, den unvorsichtigen Professor zu desavouieren und sich Rumänien gegenüber für dessen Visionen zu entschuldigen. Ja, die in Moskau erscheinende Monatsschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus”, das theoretische Organ des Weltkommunismus, druckte in ihrer Juliausgabe sogar die rumänische „Unabhängigkeitserklärung” ab, von der oben die Rede war. und zwar ohne jeden Kommentar.

Moskau macht also verläufig gute Miene zum bösen Spiel. Wie die Dinge sich weiterentwickeln werden, hängt wesentlich vom Geschick der rumänischen kommunistischen Führer, der Strapazierfähigkeit der sowjetischen Nerven, aber bis zu einem gewissen Grade sicher auch vom Verhalten des Westens ab. Denn die bisher erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen Rumäniens haben das amerikanische Denken über die gegenüber Osteuropa zu verfolgende Politik bereits merklich beeinflußt, und falls im Herbst Präsident Johnson wiedergewählt wird, dürfte sich auch hier eine Art dialektischer Entwicklung anbahnen, die eines Tages zu politischen Lösungen von der Art derjenigen führen könnte, die ein Senator Fulbright vor kurzem als „undenkbar” bezeichnet hatte — gleichzeitig die Nation auffordernd, sich Gedanken über dieses Undenkbare zu machen.

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