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Insel der Ruhe am Balkan

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FURCHE: Wie schätzen Sie die Lage der osteuropäischen Staaten zu Beginn des dritten Jahres nach dem Fall des Kommunismus ein?

EMIL KONSTANTINOV: Die osteuropäischen Staaten sind in einem gewissen Sinn nach dem demokratischen Wandel ein bißchen hilflos - auf allen Gebieten hilflos, weil es von ihnen selbst abhängt, wie sie ihre Probleme meistern. Das betrifft einmal die Politik, weil in diesen Ländern jetzt zum ersten Mal an die Politik'pluralistisch und demokratisch herangegangen wird.

Hilflos meine ich unter Anführungszeichen, weil sich in diesen Ländern, wie Bulgarien, auch die politischen Institutionen erst stabilisieren müssen. Die werden eben nicht mehr von einem Zentrum geleitet, die müssen ihr Eigengewicht im pluralistischen politischen System erkämpfen.

FURCHE: Wie steht es um die türkische Minderheit in Bulgarien?

KONSTANTINOV: Mir persönlich fällt auf, daß man im Ausland sehr wenig über das weiß, was im letzten Jahr, in den jüngsten Monaten auf dem Gebiet der Regelung der Rechtsstellung der Angehörigen der verschiedenen ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen gemacht wurde. In Bulgarien gibt es seit Juli 1991 eine neue Verfassung, in der diese Fragen grundsätzlich geregelt sind. Wichtig zu wissen ist, daß alle politischen Kräfte, einschließlich der bulgarischen Türken, anerkennen, daß Bulgarien ein einheitlicher, untrennbarer Nationalstaat ist. Diese Feststellung ist in der neuen bulgarischen Verfassung verankert, sodaß man in Bulgarien nicht von nationalen Minderheiten sprechen kann.

Es gibt verschiedene Minderheiten, ethnische Gruppen, religiöse Gruppen - und dazu gehören auch die bulgarischen Türken, die zum größten Teil von der Bewegung für Recht und Freiheit vertreten werden, die als dritte politische Kraft ins Parlament gewählt wurde und der künftigen bulgarischen Politik ihren Stempel aufdrücken wird. In diesem Sinn kann Bulgarien viel mehr vorweisen als einige der Nachbarstaaten, vor allem der südlichen Nachbarstaaten Bulgariens.

FURCHE: Wie steht Bulgarien zum Krieq im ehemaligen Jugoslawien?

KONSTANTINOV: Mittelbarwird sich das im Bewußtsein der bulgarischen Politiker und des ganzen bulgarischen Volkes widerspiegeln, daß aus dem Entzünden ethnischer Konflikte Gefahren für die nationale Einheit Bulgariens und für den inneren Frieden, fürdie wirtschaftliche und soziale Prosperität entstehen können.

FURCHE: Gibt es eine Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Bulgariens?

KONSTANTINOV: Diesbezüglich

unterscheidet sich Bulgarien von anderen ehemaligen kommunistischen Ländern - und zwar im positiven Sinn. In Bulgarien hat sich die Umwandlung in Richtung Demokratie gewaltlos und ohne Blut vollzogen. Und das ist sehr wichtig, denn das hat sich im Herzen des Balkans vollzogen. Das bedeutet, Bulgarien war und ist und wird auch in Zukunft eine Insel der Ruhe, des Friedens und der Sicherheit auf dem Balkan sein. Ohne Sicherheit auf dem Balkan kann es keine Sicherheit in Europa geben.

Die Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit vollzieht sich nicht mit einem Satz, einer Bewegung, einer Unterschrift oder mif einem Gesetz. Das wird ein langer Prozeß des Umdenkens, der Verarbeitung der eigenen persönlichen und politischen Vergangenheit. Viele haben diese Schlußfolgerung bereits gezogen.

Von der Verwaltung werden kompromittierte führende Beamte entfernt, allerdings gibt es keine Säuberungen, es wird also keine Hexenjagd geben, sodaß alle, die fachlich und gewissenhaft gearbeitet haben und jetzt so weiterarbeiten, nicht mit politischer Verfolgung rechnen müssen.

FURCHE: Haben Sie eine Vorstellung vom künftigen Aussehen des früheren Ostblocks?

KONSTANTINOV: Von der Antwort auf diese Frage hängt der Lebensoptimismus dieser Leute und dieser Staaten ab. Und ich möchte klipp und klar sagen, ohne Lebensoptimismus läßt sich in Osteuropa nichts bewältigen. Ich bin zuversichtlich, daß man in zwanzig Jahren zum größten Teil die Teilung Europas überwunden haben wird. Das hängt auch von der Möglichkeit derosteuropäischen Staa-

ten ab, die Bedingungen dafür zu schaffen - also die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen.

Mit kleinen Schritten ist da nichts getan, denn im Augenblick brauchen die osteuropäischen Staaten eine massive moralische, politische und wirtschaftliche Unterstützung, um überhaupt Voraussetzungen dafür zu schaffen, die dazu führen können, eigene Bedingungen für Investitionen zu entwickeln. Und es müssen Hunderte von Milliarden kommen, damit es nicht zu spät wird. Denn dann wird alles noch vil mehr kosten - und die Teilung Europas wird nicht in zwanzig, nicht in dreißig, ja nicht einmal in hundert Jahren überwunden sein Mit dem Professor für Völkerrecht an der Universität Sofia, Dr. Emil Konstantinov, sprach Martin Mair.

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