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Das stille Land am Balkan

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Vorträge in Sofia und Trnovo, die stets von Diskussionen und Gesprächen begleitet waren, zudem eine Autofahrt durch einen wilden Teil des Balkangebirges, Begegnungen mit Rektoren, Professoren, Studenten zweier Universitäten, mit Schriftstellern und vielen Intellektuellen brachten mir in mancher Hinsicht erstaunliche Eindrücke: das verhältnismäßig kleine Land Bulgarien (etwa acht Millionen Einwohner) liegt im Interessenbereich der Weltöffentlichkeit ziemlich am Rande. Nach dem Sturz von Todor Schiwkov (der als alter Mann derzeit in einer Art Luxushaft sitzt und von allerlei Politikern ungestört besucht wird) gibt es dort keine großen Sensationen. Der einstige Philosoph Schelju Scheljew regiert als Präsident zwar umstritten, aber ziemlich pragmatisch und geschickt.

Die Vizepräsidentin Blaga Dimitrova, die bekannteste bulgarische Schriftstellerin und mit Österreich durch manche Besuche verbunden, wurde für die Öffentlichkeit zur moralischen Instanz. Ihre Reden, ihre Artikel formulieren demokratische, liberale und osteuropäische Positionen, die auch dem Westen sehr nützlich sein könnten - nur kennt sie hier kaum jemand. Vielleicht war das Phänomen der Unbekanntheit nicht nur mancher bedeutender bulgarischer Persönlichkeiten, sondern überhaupt der bulgarischen Kultur im Westen der stärkste meiner tragisch-östlichen Überraschungen.

Natürlich, die wenigen Fachleute im Westen wissen alles: sie kennen die Geschichte dieses ungemein wichtigen Landes, sie sind über die Literatur und Künste der Gegenwart informiert, doch das betrifft nur ein paar Spezialisten. Die Zeitungen, die westlichen Politiker blicken nach Rußland, nach Serbien, Bosnien, nach Georgien, Aserbeidschan, nach Armenien -doch Bulgarien liegt im Schatten. Vielleicht ist das gut so und spricht durchaus für den Pragmatismus, die relativ vernünftige Politik dieses Landes. Trotzdem oder gerade deshalb sollte der Westen sich der Kultur Bulgariens stärker zuwenden.

Sehr viele bei uns meinen etwa, Boris Christoff, Nikolaj Ghiaurow, Dimiter Usunow, Ljuba Welitsch seien Russen oder andere Slawen, nur sie stammen aus Bulgarien. Viele bei uns wissen von der Taufe des Kiewer Rus unter Wladimir dem Heiligen 988, nicht aber, daß bereits 124 Jahre früher Chan Boris Michael in der damaligen Hauptstadt Pliska des ersten bulgarischen Reiches sein Volk taufen ließ. Lange vor der russischen Tradition gab es in Bulgarien die ersten Zaren. Die Brücke von Konstantinopel nach Kiew und nach Moskau - zum „Dritten Rom" - wurde über Bulgarien geschlagen. Die Hauptstädte des ersten und zweiten bulgarischen Reiches schlummern heute im Hintergrund der Geschichte. Pliska wurde bis auf Ruinen von den Türken zerstört, Trnovo überlebte mit allergrößten Schwierigkeiten, errichtete eine wichtige Universität, bemüht sich, seine vom Kommunismus zerstörte Wirtschaft wieder aufzuziehen.

Was aber im Westen kaum jemand weiß: diese Stadt ist einer der schönsten Plätze unserer Kultur. In einem riesigen Talkessel terrassenförmig emporgebaut, wird sie von einer gigantischen Burg, die einen mitten im Tal aufragenden Felsen krönt, in einer malerischen Apotheose überragt.

Bulgarien ist ein Stück verschüttetes europäisches Bewußtsein, gewiß im Westen, vielleicht in Osteuropa selbst -und wahrscheinlich sogar im eigenen Land und bei der eigenen Bevölkerung.

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