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Bulgarischer Alltag 1980

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Europa und die Welt starrten bis 4. Mai 1980 über 100 Tage auf den Abschied von Josip Broz Tito. Man hat seit 1949 fast vergessen, daß sogleich nach Kriegsende der bulgarische Kommunist Georgi Dimitrov - berühmt durch seine Verteidigungsrede im Reichstagsbrand-Prozeß 1933 - nicht minder Anteil an der neuen Ordnung auf dem Balkan hatte.

Zweimal wöchentlich drängen sich in Bulgariens Hauptstadt Sofia Hunderte wartender Menschen vor dem Mausoleum Georgi Dimitrovs, das seinerzeit binnen sechs Tagen und Nächten aus Marmorblöcken für den bedeutenden Sohn Bulgariens errichtet worden war. Das Mausoleum liegt keine 200 Meter vom früheren bulgarischen Königspalast entfernt und soll offenkundig den Sieg des toten internationalen KP-Funktionärs über das bulgarische Königshaus von Coburg-Gotha symbolisieren.

Angenehm fällt im Zentrum von Sofia auf, daß es nicht dem architektonischen Gigantismus neostalinistischer Bauten erlegen ist. Vorwiegend Parks und ehemalige Repräsentationsbauten der Jahrhundertwende schaffen ein intimes Gepräge. Drei bulgarisch-orthodoxe Kathedralen des Stadtzentrums erleben auch in dem atheistisch-materialistischen Staatswesen einen unablässigen Strom andächtiger Besucher.

Sowjetische Daueraufträge

Der bulgarische Alltag ist nüchtern und steht außenhandelsmäßig unter dem Vorzeichen sowjetischer Daueraufträge und industrieller Kapitalinvestitionen, die das kleine 9-Millio-nen-Volk viel enger an die sowjetische Machtzentrale binden, als es eine militärische Besatzung vermöchte. Die unerhört forcierte Industrialisierung Bulgariens, die Schaffung und Erhaltung eines Partei- und Verwaltungsapparates, die Bereitstellung der bulgarischen Volksarmee gegen Westen und Süden erfordern natürlich Mittel, die heute vielfach als soziale Belastung empfunden werden müssen.

Zwischen November 1979 und April 1980 wurden Preise und Löhne in ein neues Wechselverhältnis gebracht: Das monatliche Durchschnittseinkommen beträgt derzeit etwa 180 Leva (1 Lev = „Löwenthaler” mit dem Zwangskurs, der über der Dollarparität liegt). Während die unterste Lohnstufe rund 100 Leva pro Monat erreicht, kostet ein Männeranzug von gar nicht beeindruk-kender Qualität und Aufmachung 120 Leva.

Die neuen Fleischpreise hatten im Frühjahr 1980 bis dahin wartende Käuferschlangen vor Fleischerläden beseitigt. Der ausländische Besucher konnte im übrigen trotzdem bis zu 200 und mehr wartende Käuferkunden erblik-ken - vor den großen Buchhandlungen der Hauptstadt, wo fallweise westliche Literatur in bulgarischen Ubersetzungen erscheint. Am Märzende war es etwa Hermann Hesses „Steppenwolf', um den sich alt und jung in einer Arbeitspause anstellte.

Uberhaupt läßt sich beobachten, daß die Kenntnis 'der deutschen Sprache auch in Schulanstalten gefördert wird. Dort ist Deutsch nicht bloß Wahlfach, sondern Hauptsprache für sämtliche Fächer bis zum Schulhof und ins Internat.

Bei Besichtigung landwirtschaftlicher Staatsgüter und Kolchosen des Mariza-Tales gewinnt man den Eindruck: Die Bulgaren haben ihren Ruf als „Preußen des Balkans” mit Fleiß, Disziplin und elastischer Anpassung an die offizielle Staatswirtschaft gewahrt und kollektiv bedingte Schwierigkeiten gemeistert.

Sieht man von der unmittelbaren Aura des östlichen und westlichen Tourismus ab, entdeckt man ein aufgeschlossenes, gastfreies Volk, dessen kritische Jugend gerade auch dem westlichen Besucher freundlich und mit einer oft erstaunlichen Kenntnis des „Kapitalismus” im Westen entgegentritt.

Die staatsindustrielle Gründerzeit des bulgarischen Gärtncrvolkes scheint überwunden. Fehlplanungen und Mammutprojekte werden durch Modernisierung, Rekonstruktion und Ausbau auf einen normalen Produktionsund vor allem Kostenstand gebracht. Natürlich hat die Ära Todor Shivkovs Ubergangsschwierigkeiten noch nicht überwunden.

Erstaunlich funktioniert noch der Westhandel. Die vor zwei Jahrzehnten gefaßten Pläne hätten nachgerade den industriellen Westen zur Bedeutungslosigkeit (auch in Prozentanteilen) verdammen sollen. Innovation und modernste Technologie veranlassen jedoch Bulgariens Staatsplaner immer wieder, mit diesem Westen (voran die Bundesrepublik Deutschland, Italien, Österreich! industrielle Kooperation und gemeinsame Unternehmungen zu starten.

Was die Makedonien-Frage angeht, wurde von einem ausländischen Beobachter folgende Milchmädchen-Rechnung aufgestellt: Der neueste Stand für PKW-Käufer in Bulgarien sieht die entsprechende Anspar-Summe ohne Verzinsung und eine etwa sechsjährige Wartezeit vor. „Drüben” in der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien kann sich natürlich jeder Interessent, bei verfügbarem Geld, sofort einen PKW oder andere Luxusgüter kaufen. Die heranwachsende junge Generation der Makedonier werde diese Äußerlichkeiten mehr schätzen, als historische Folklore, nationale Literatur und geistige Vorläufer.

Um die Problematik zu veranschaulichen, sollte man wohl auch Emil Hoffmann zitieren: „Im Zeichen der West-Ostblock-Politik - und noch weit mehr während des Kalten Krieges -wurde und wird jedoch den bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen stets eine internationale Reflektionswirkung beigemessen. Es ist im Westen zur Stand-

Bulgarien als Barometer ard-These geworden, bei allem, woran Bulgarien auf dem Balkan beteiligt ist, den Schatten der Sowjetunion zu suchen: Moskau benutzte die Makedonien-Frage als Hebel, um eigene Interessen zu realisieren. Bulgarische Vorschläge, so heißt es, seien kaum mehr als ein Barometer für sowjetische Absichten”.

Todor Shivkov hat im Juni 1978 Jugoslawien ein Angebot auf wechselseitige Respektierung der Grenzen gemacht. Jedenfalls aber dürfte dieses moderne Makedonien in drei Balkanstaaten am ehesten als Kondominium befriedet werden, oder - wie der rumänische Außenpolitiker der Zwischenkriegszeit, Nicolas Titulescu, für den Balkan zu hoffen wagte - durch „pa-pierne Grenzen”.

Bulgariens Transportleistungen bis Mittelost, Bautätigkeit und Ingenieurberatung insbesondere in afrikanischen OPEC-Ländern eine seit April 1980 wieder deutlichere Hinwendung zu westlichen Handels- und Produktionspartnern, ein beeindruckendes echtes Kulturstreben, die wieder tolerantere Haltung gegenüber religiösen Denominationen läßt - inmitten verstärkter Spannungen - auch in diesem Vorfeld Ost- und Südosteuropas, einen bulgarischen Beitrag zu einer normalisierten Nachbarschaft erhoffen.

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