"Ein Mythos ist zu Ende gegangen"

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Als erster Ungar wurde Imre Kertész mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Im Furche-Exklusivgespräch über sein Leben und Werk geht es um die Erfahrung von Auschwitz als Grundlage für sein Denken und Schreiben.

Die Furche: Herr Kertész, was bedeutet Ihnen der große Erfolg im deutschen Sprachraum, der für den Nobelpreis nicht unwichtig war?

Imre Kertész: Das bedeutet für mich sehr viel. Ich bin gewissermaßen in der deutschen Kultur aufgewachsen, habe die deutsche Philosophie und Literatur gelesen, und das hat vielleicht eine Spur in meinen Schriften hinterlassen. Ich hatte die schrecklichsten Erlebnisse in Deutschland und habe sie für die deutsche Kultur formuliert und zurückgegeben. So ist das wie ein mythischer Kreis. Und dass meine Literatur so aufgenommen wurde, ist für mich ein sehr schönes Erlebnis.

Die Furche: Wie erleben Sie Ungarn heute? Hat sich etwas geändert im Blick auf die Vergangenheit?

Kertész: Ungarn ist ein gespaltenes Land. Die Politik teilt Ungarn in zwei Teile: in die so genannten Nationalisten und sozusagen die Landesverräter. Ich bin gerade aus Ungarn wieder nach Berlin gekommen, ich habe mit dem Staatspräsidenten, dem Ministerpräsidenten und verschiedenen Politikern gesprochen und es ging immer darum: Wie kann man diese Front nach den neuen Wahlen im Vorjahr überwinden. Ich hoffe, dass mein Nobelpreis ein wenig dazu beigetragen hat, dass das gelingen wird. Umso mehr, weil mich in Ungarn so große Liebe umgeben hat, von der ich überhaupt nicht geträumt hätte. Bei den zwei Signierstunden am Wochenende sind Tausende Menschen da gewesen. Der Preis ist ein Stolz für die Nation und meiner Meinung nach das erste große positive Erlebnis, das vereinigt und nicht trennt, und darüber bin ich sehr froh.

Die Furche: Sie sind 1929 in Budapest geboren - wie hat Ungarn damals politisch und gesellschaftlich ausgesehen?

Kertész: Von Ungarn war nach dem Ersten Weltkrieg nur ein kleines Stück geblieben und es bekam auch die damalige Wirtschaftskrise zu spüren. Von heute betrachtet kann ich sagen, dass für die Situation von 1944 bereits alles vorbereitet war. Eine Reihe von Judengesetzen haben der Bevölkerung angewöhnt, dass eine große Minderheit abgesondert wird. Was mit ihr passieren wird, war nicht klar, aber es war sozusagen natürlich, dass etwas passieren wird. Und es ist sehr schnell passiert. Man hat in drei Monaten etwa 800.000 ungarische Juden deportiert und davon 600.000 ermordet.

Die Furche: Für Sie als Schüler bedeutete das, die Schule nicht mehr besuchen zu dürfen, sondern zu arbeiten; und dann wurden Sie nach Auschwitz deportiert.

Kertész: 1944, als die deutsche Besatzung kam, musste man ab 14 Jahren einen Arbeitsplatz haben. Ich habe auf der Donauinsel Csepel gearbeitet. Eines Morgens wurde ich an der Stadtgrenze aus dem Autobus gerufen, dann wurden wir verhaftet, ins Ghetto geschickt und von dort nach Deutschland deportiert. Das war im Juni 1944.

Die Furche: Wie haben Sie überlebt?

Kertész: Drei Monate konnte man, wenn man gesund war, aushalten mit diesem Essen und mit dieser Arbeit und der Quälerei. Ich kam mit einem Krankentransport nach Buchenwald, wurde aus dem Waggon geworfen und wer so ankam, kam regelmäßig in Typhusbaracken. Dort ist man in einer Woche gestorben und wurde im Krematorium verbrannt. Aber es gab ein Kommando von politischen Häftlingen, die immer nach solchen gesucht haben, die noch gerettet werden könnten. So habe ich überlebt.

Die Furche: Wie verlief für Sie die Rückkehr von Buchenwald in das normale Leben in Budapest?

Kertész: Ich war damals fast 16 Jahre alt, wollte natürlich sofort in das Leben hinein, so gierig war ich, wie ein Heranwachsender nur sein kann und habe das Ganze sozusagen vergessen. Was ein sehr interessantes Vergessen bedeutet, denn ich habe darüber gesprochen. Ich habe das nie geleugnet, ich versuchte nicht, das in mir zu unterdrücken. Ich habe ganz leicht davon erzählt und bin mit anderen zusammen gekommen, die auch im KZ waren. Und trotzdem habe ich in meinem Inneren das Gewicht dieses Erlebnisses nicht gespürt. Bis dann auch in Budapest ganz unangenehme Verhältnisse entstanden sind: Ich meine den Stalinismus, wo alles anfing wiederzukommen.

Die Furche: Wie haben Sie als 19-jähriger Maturant die kommunistische Machtübernahme erlebt?

Kertész: Ich war natürlich 1946 kommunistisch - das war die einzige Möglichkeit, die für mich passte, und ich hatte sehr viele Freunde, die alle begeistert waren von der linken Bewegung. Ich habe maturiert, und dann bin ich zu einer Zeitung als Journalist gegangen. Das war fünf Monate lang sehr interessant. Dann kam der ideologische Journalismus. Das bedeutete, dass man kein Journalist mehr war, sondern eine Art

der die Ideologie predigen musste, und das konnte ich einfach nicht.

Die Furche: Und wie sind Sie aus dieser Maschinerie herausgekommen?

Kertész: Durch eine ganz normale Kündigung. Ich erinnere mich: Der Winter 1951 war sehr kalt, ich hatte meinen Wintermantel auf dem Markt verkauft, ich fror und ich musste etwas machen. Die einzige Möglichkeit war, dass ich in einer Fabrik zu arbeiten anfing. Und dann passierte wieder ein Akt von Solidarität: Ein Freund von der alten Zeitung hatte für mich eine Stelle im Industrieministerium gefunden; ich wurde in die Presseabteilung aufgenommen. Aber das war auch wieder ganz komisch.

Ich hatte angefangen, Operetten-Hörspiele zu schreiben. So eine Radio-Operette bedeutete damals 3.000 Forint und das war ein großes Geld für einen jungen Mann, der keine Stelle hat. Und es war auch noch gefährlich, keine Stelle zu haben, es war ja obligatorisch zu arbeiten. Aus dem, was ich erzählt habe, sollte folgen, dass ich ganz traurig war und sehr gelitten habe, aber das ist nicht wahr. Denn ich war jung, ich hatte Freunde, und es gab ein Nachtleben in Budapest damals. Ich bin jeden Tag um drei oder vier Uhr ins Bett gegangen, wir haben geplaudert und gespielt und uns Illusionen gemacht, wir wollten alle Schriftsteller sein, waren aber Operettenautoren, und wir wollten Stücke schreiben - so ein schizophrenes Leben habe ich geführt.

Die Furche: Wenn man Ihr Galeerentagebuch liest, hat man den Eindruck, dass sich das Leben später radikal verändert hat.

Kertész: Ja, das war so. Wir schrieben 1955 und wir spazierten mit meinem Freund, mit dem wir ein Lustspiel planten, und ich habe ihm auf einmal gesagt: "Paul, ich schreibe dieses Lustspiel nicht weiter." "Warum?", hat er gefragt. Dann sagte ich: "Ich will nur so etwas schreiben, womit ich etwas zu tun habe." Das hat weder er noch ich selbst verstanden.

Die Furche: Hatten Sie schon die Idee über Auschwitz zu schreiben?

Kertész: Über dieses Thema zu schreiben, war schon in mir. Ich habe schon in den Mechanismus hineingeschaut, aber dazu kam noch der Aufstand 1956. Der Aufstand, den ich in Budapest erlebt habe, war einerseits ganz erhebend, andererseits dauerte es zwei Wochen und es war vorbei. Das alte Regime kam zurück, ich habe wieder einmal gesehen, wie der Mensch sich an einen unerträglichen Zustand anpasst. Damals war ich 27 Jahre alt, ich wollte

hat alles eingeleuchtet, wie das alles möglich war, von Auschwitz bis zum Stalinismus, wie das funktioniert, wie diese Maschinerie läuft, wie sie die Leute in einen großen Eimer, den man Weltgeschichte nennt, hineinhackt.

Die Furche: Auschwitz ist für Sie ein Schlüssel geworden, um das Leben und die Welt zu verstehen.

Kertész: Ja, genau. Was im 20. Jahrhundert passiert ist, bedeutet, dass eine Kultur, ein gültiger Mythos, woran man sich gehalten hat, zu Ende gegangen ist. Und in welchem Mythos wir heute leben, ist nicht klar, aber ich glaube, ein ganz sicherer Punkt der Zeit, wo und wie wir leben, ist Auschwitz. Die politischen Verhältnisse, die Auschwitz geschaffen haben, können einmalig sein. Adolf Hitler kann ein Zufall sein, aber was sich in Auschwitz ausdrückte, das ist kein Zufall, das ist keine einmalige Erscheinung, das ist etwas Gesetzmäßiges, ja ich glaube, ganz radikal ausgedrückt, das Prinzip unseres Lebens. Auch heute noch, glaube ich.

Die Furche: Sie haben geschrieben, dass Sie das Judentum nicht als Geschichte, nicht als Rasse, nicht als Religion interessiert, sondern als Erfahrung des Ausgesetzt-Seins.

Kertész: Es ist eine geistige Lebensform, wie ich das in meinem Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" ausgedrückt habe. Das bedeutet, dass man diese negative Seite der Geschichte erlebt hat; und genau darin liegen diese Gesetzmäßigkeiten, von denen heute ein Künstler arbeiten muss, wenn er authentisch sein will.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Mit vierzehn ins KZ deportiert

Der diesjährige Literaturnobelpreisträger Imre Kertész wurde 1929 in Budapest geboren und als Vierzehnjähriger nach Auschwitz deportiert. Sein "Roman eines Schicksallosen", an dem er zehn Jahre gearbeitet hat, konnte erst 1975 in Ungarn erscheinen, wurde aber totgeschwiegen. Mit der deutschen Übersetzung von 1996 begann sein internationaler Erfolg. Auf deutsch liegen auch die Romane "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" (1992) und "Fiasko" (1999), die Prosabände "Ich - ein anderer" (1998) und "Spurensucher" (2002), das "Galeerentagebuch" (1993) sowie die Erzählungen "Die englische Flagge" und der Essayband "Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt" (beide als Taschenbuch 1999) vor. Der Holocaust gehört für Kertész zu den vitalen Fragen des europäischen Bewusstseins, "denn er muss in derselben Kultur reflektiert werden, in der er begangen wurde".

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